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SIE WOLLEN MARX STUDIEREN

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Vor einiger Zeit stand in einer niedersächsischen Stadt der Kreisschulrat vor Gericht. Ihm war vorgeworfen worden, er habe in der Kriegsgefangenschaft in Rußland Spitzeldienste für die Sowjets geleistet. Eine Reihe von Zeugen trat an zur Belastung und zur Entlastung. Und eine Tatsache erschien dem Staatsanwalt und derr Richter als sehr belastendes Moment gegen der Schulrat: er hatte im Gefangenenlager mv einem Kreis von Mitgefangenen die Werki Lenins und anderes über den Marxismus gründ lieh diskutiert. Einer der Zeugen machte darauf aufmerksam, daß in der Zeit zwischen den Kriegen viele Studenten an deutschen Universitäten von Professoren in die Lehre des Marxismus eingeweiht worden waren, ohne daß diese Lehrer deshalb als zweifelhafte Staatsbürger hingestellt werden konnten. Aber damals gab es eben noch nicht den kalten Krieg und nicht die Schwarzweißmalerei.

Nun hat die Studentenschaft in Kiel an ihre Universität den Antrag gerichtet, i n d e n V o r-lesungsplan solle das Studium des Marxismus-Leninismus aufgenommen werden. Es gebe heute im Westen zu wenige Menschen, die darüber Bescheid wüßten, und das sei ein Mangel, wenn es gelte, mit diesem akuten Zeitproblem fertig zu werden, besonders im Hinblick auf die Wiedervereinigung Deutschlands.

Sprecher aller politischen Parteien haben sofort wissen lassen, daß ihnen diese Anregung gar nicht gefällt: sie zeige von einer großen politischen Naivität der Studentenschaft, denn damit werde ja eine glänzende Gelegenheit der kommunistischen Infiltration in die Bundesrepublik geschaffen.

Vielleicht ist diese Schärfe der Reaktion daraus zu erklären, daß eine Arbeitsgemeinschaft an der Kieler Universität sogleich den Gedanken äußerte, als berufenen Lehrer des Marxismus einen Dozenten aus der Sowjetzone herbeizuholen. Das wäre, so kommentiert die „Badische Zeitung“ diese Auseinandersetzung, natürlich nicht der rechte Weg, zumindest kommt er solange nicht in Frage, als nicht drüben auch berufene Kenner der in der westlichen Welt bestimmenden geistigen Strömungen zu den Studenten sprechen können. Daß es aber unbedingt notwendig ist, in den führenden Schichten des Westens mehr von der östlichen Lehre zu wissen, um für Begegnungen und Auseinandersetzungen besser gerüstet zu sein, das ist ganz gewiß richtig und das haben vor den Kieler Studenten auch schon politisch unverdächtige Kreise, Laienbrüder beider christlichen Konfessionen und studentische Vereinigungen erkannt. Man kann an einem Gedankengut, unter dessen Einfluß ein Drittel der Menschheit heute steht, einfach nicht vorbeigehen, als ob es nicht bestünde — wenn man die Partie nicht von vornherein aufgeben will.

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