Südosteuropa - © Grafik: Rainer Messerklinger (Quelle: Wikipedia)

Othering: Der „wilde“ Südosten?

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Ob Kosovo oder Bergkarabach: Der Südosten kommt in unserer medialen Sphäre meistens nur dann vor, wenn es um Krieg und Gewalt geht. Doch dies passiert nicht rein zufällig, sondern fußt auf einer langen Geschichte problematischer Zuschreibungen.

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Ob Kosovo oder Bergkarabach: Der Südosten kommt in unserer medialen Sphäre meistens nur dann vor, wenn es um Krieg und Gewalt geht. Doch dies passiert nicht rein zufällig, sondern fußt auf einer langen Geschichte problematischer Zuschreibungen.

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Warum ist die westliche Gesellschaft unzureichend bereit, die östliche und südöstliche Nachbarschaft zu einem Teil ihrer eigenen und gewohnten Welt zu machen? Der „betrieblichen“ Nähe, die sich in zahllosen politischen und wirtschaftlichen Verflechtungen widerspiegelt, steht nämlich eine hartnäckige mentale Distanz gegenüber, die der so oft appellierten „europäischen Integration“ krass widerspricht.

Wer die Überschrift liest, wird über ihre Formulierung möglicherweise den Kopf schütteln und meinen, es sei doch eindeutig, dass der europäische Kontinent einen Gebietsanteil aufweist, der als „Südosten“ geläufig ist. Wenn wir so argumentieren, gehen wir allemal von der Vorstellung aus, jeder geografische Raum habe eine Mitte, wonach der Südosten – am Schaubild einer eingenordeten Karte – rechts unten zu denken ist. Fragen wir nach der geografischen Mitte Europas, ergibt die Recherche (je nachdem, wo man die kontinentalen Grenzen zieht) überraschende Ergebnisse: in Ostungarn, in Litauen, in Belarus oder gar in Estland. Demnach kämen für Europas Südosten am ehesten die Ukraine (inklusive der Krim), Moldau und das Schwarze Meer in Betracht. Jene Schauplätze werden nach der gängigen Begriffsführung jedoch dem Begriff „Osteuropa“ zugeordnet, während mit „Südosteuropa“ – ganz grob formuliert – der Raum zwischen Österreich, der Südwestukraine und der Türkei gemeint ist. Hauptsächlich verwendete Alternativbegriffe für diesen Südosten sind „Ostmitteleuropa“, womit außer Tschechien die Slowakei, Ungarn und Slowenien umschrieben wird, und „Balkanraum“, mit dem die Territorien Serbiens, Bulgariens, des Kosovo, Nordmazedoniens, Griechenlands, fallweise der Türkei (bis zum Bosporus), Albaniens und Bosnien-Herzegowinas einen gemeinsamen Titel verpasst bekommen. Rumänien, Moldau und Kroatien können je nach Sachverhalt beiden Raumbegriffen zugeordnet werden.

Vorbehalte und Ablehnung

Aus geografischer Perspektive zählt dieser Südosten eindeutig zu Europa – also warum die Frage, ob sich dieser Schauplatz auf einem anderen Kontinent befindet? Täglich lässt sich beobachten: Die Unvertrautheit mit einer Sphäre mangels gediegenen Wissens und unzureichender Erfahrung führt zum Denkansatz, bei dem die eigene Welt zum Bezugsrahmen herangezogen und alles, was nicht dazu zählt, zu etwas Fernem und Fremdem gemacht wird, das damit automatisch der Marginalisierung unterliegt.

Daraus resultiert die Frage, worauf dieses Phänomen zurückzuführen ist. Es ist naheliegend, dass die Menschen in den westeuropäischen Ländern, die keine Nachbarschaft zum Südosten Europas haben, mangels ausreichender Anknüpfungspunkte keine mentale Nähe entwickelt haben. Und es ist nachvollziehbar, dass schlechte Erfahrungen, die mit einem der in Betracht kommenden Länder verbunden sind, Vorbehalte oder gar Ablehnung auslösen können. Wenn der Großteil der Bewohnerinnen und Bewohner Österreichs – obwohl „vor der Tür“ – mit Europas Südosten keinen oder nur einen sehr geringen Umgang hat und diesem Einzugsbereich dennoch mit innerer Distanz begegnet, dann muss dieses Phänomen andere Ursachen haben.

Es gibt viele Gründe für diese Beziehungs- und Ahnungslosigkeit, doch reichen sie zeitlich weiter zurück als alle nach und nach entstandenen, begründbaren und nicht begründbaren Vorurteile. Im Zeitalter der Aufklärung (18. Jahrhundert) entwickelte man in Westeuropa (federführend waren Frankreich, England und „Deutschland“) die Enzyklopädien mit dem Hintergedanken, das Wissen über die damalige Welt zu sammeln und der Leserschaft zwecks geistiger Orientierung zur Verfügung zu stellen. Vergleicht man alle Lexikagenerationen seither, kommt man zu dem verblüffenden Ergebnis, dass sie allesamt dem Ziel der Aufklärung nicht gerecht werden: Das enthaltene Wissen fußt noch immer überwiegend auf Inhalten, die einen eindeutigen Westbezug aufweisen, und es fehlt nach wie vor auch an einer Rechtfertigung, die erklärt, warum sich seit bald 300 Jahren an diesem Ungleichgewicht nichts geändert hat.

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