Brics-Erweiterung gegen den Westen? - Die Erweiterung der BRICS-Staaten hat das Potenzial, die auf Völkerrecht gestützte internationale Ordnung völlig umzukrempeln. - © APA / AFP / Michele Spatari

Mein "Westen": Eine Diplomatin erinnert sich

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Die Erweiterung der BRICS-Staaten hat das Potenzial, die auf Völkerrecht gestützte internationale Ordnung völlig umzukrempeln. Resümee einer österreichischen Botschafterin a. D. zur aktuellen geopolitischen Geografie.

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Die Erweiterung der BRICS-Staaten hat das Potenzial, die auf Völkerrecht gestützte internationale Ordnung völlig umzukrempeln. Resümee einer österreichischen Botschafterin a. D. zur aktuellen geopolitischen Geografie.

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Ich bin im Westen Österreichs, in Tirol, geboren und aufgewachsen. Als ich berufsbedingt nach Wien übersiedelte, um mein Glück im Außenministerium zu versuchen, verstanden meine Freunde und Bekannten nicht, wie eine Tirolerin freiwillig in den Osten ziehen könne. Meinen stage – eine Art Probe-Auslandsversetzung, die herausfinden sollte, ob eine Jungdiplomatin für diese Art von Arbeit geeignet ist – machte ich in Kairo. Das war die exotischste (und östlichste) Destination auf der damaligen Liste. Rasch hatte ich in Kairo Gespräche mit hervorragend gebildeten Persönlichkeiten, die zusätzlich zu ihrer ägyptischen Tradition und Kultur auch das Beste von Oxford oder Paris aufgenommen hatten.

Mein erster „richtiger“ Auslandsposten war dann in New York, das auch von Tirol aus gesehen im Westen liegt. Nur kurz konnte ich in meinem Irrglauben verharren, dass ich in derselben Zivilisation bleiben würde. Die politische Kultur, die Gegensätze zwischen Arm und Reich erschütterten mich nachhaltig: Der Obdachlose, der vor „Tiffany’s“, dem Gold-und-Silber-Kaufhaus auf der Madison Avenue, seinen Schlafkarton ausbreitete, die Rolle von Religion im öffentlichen Leben, Kleidungs- sowie Gesprächsstil und vieles andere mehr waren zu anders.

USA von Peking aus im Osten

Als ich Botschafterin in Peking war, orientierte sich das Reich der Mitte mit der neuen Seidenstraßen-Initiative gerade intensiv nach Westen – und damit weg von der Konfrontationslinie mit den USA, die von Peking aus gesehen im Osten verläuft. Und in Brasilien wiederholte sich für mich ein wenig die New Yorker Erfahrung. Obwohl so stark geprägt von den europäischen Kolonialherren, folgt der lateinamerikanische Kontinent seiner eigenen Dynamik und Logik – und lässt sich nicht verstehen, wenn man ihn als Ausdehnung des Westens sieht.

Meine Arbeit hatte über vieleJahre hinweg einen starken multilateralen Bezug. In der Generalversammlung der Vereinten Nationen ist die Welt nicht so sehr in Ost und West geteilt als in Nord und Süd: Es gibt in der UNO die 1964 gegründete Gruppe der 77 (der derzeit offiziell 134 Staaten angehören) und jene Staaten, die nicht zur G-77 gehören. Das sind im Wesentlichen die „reichen“ OECD-Mitglieder (derzeit 38) und die Nachfolgestaaten der Sowjetunion. In den „Nord-Süd-Dialogen“ vor allem zu Entwicklung, zu Fragen der internationalen Verschuldung, zur Rohstoffpolitik oder zum Klimawandel stellt sich China (Supermacht hin oder her, und ohne Bedachtnahme auf geografische und geschichtliche Unterschiede) auf die Seite des Südens. Viele Länder wollen heute nicht mehr als Teil des Globalen Südens angesprochen werden, weil der Terminus ungebührlich verallgemeinert. Und der Norden differenziert sich ebenfalls in EU und andere „westliche“ Länder wie die USA, Kanada, Australien, Neuseeland und das östlich von China gelegene Japan.

Nach all dem Gesagten erscheint mir die Geografie nicht aussagekräftig. Die vielbeschworenen Werte des Westens sollen weiterhelfen: liberale Demokratie und Menschenrechte, Marktwirtschaft und soziale Gerechtigkeit, in der Aufklärung verankerte Meinungsvielfalt und Toleranz, Solidarität und friedliche Konfliktlösung. Ich sehe in der Europäischen Union einen Raum, in dem diese Werte hochgehalten, wenn auch nicht immer genügend verwirklicht werden. Die EU ist in vieler Hinsicht kritisierbar und sollte konstruktiv kritisch weiterentwickelt werden. Dennoch sehe ich in ihr eine politische Kraft, die bereit ist, diese Werte auch in die Geopolitik hineinzutragen. Dabei ist die Eigenständigkeit hinsichtlich des wohlverstandenen Eigeninteresses der EU gegenüber den USA bei aller Bedeutung der transatlantischen Partnerschaft essenziell.

Weltordnungsvorbild Kino

Der indische Politikwissenschafter Amitav Acharya hat vor einigen Jahren den Begriff der „Multiplex-Weltordnung“ geprägt, anknüpfend an die Analogie des Multiplexkinos, wo in verschiedenen Sälen zur gleichen Zeit verschiedene Filme für unterschiedlich interessiertes Publikum gezeigt werden. Wiewohl das vor allem militärisch motivierte Zusammenrücken zwischen Europa und den USA in der Antwort auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine ein Wiederaufleben der Reflexe des Ost-West-Konfliktes nahelegen könnte, denke ich, dass diese Multiplex-Metapher für die geopolitische Architektur höheren Erklärungswert hat. So verständlich die kollektive Aufmerksamkeit auf die Situation in der Ukraine ist: In der Welt gibt es noch andere blutige militärische Konflikte, Putschs, Dürren und Hungersnöte, Migrationsbewegungen größten Ausmaßes, regionale Entwicklungen, Verschiebungen politischer Allianzen etc. Genauso wie positive wirtschaftliche Trends – etwa auf dem afrikanischen Nachbarkontinent –, die für Europa in jeder Weise von Interesse sind.

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