6646898-1958_29_10.jpg
Digital In Arbeit

DER MENSCH UND DIE LEUTE

Werbung
Werbung
Werbung

Wenn heute abend einer von uns es sich einfallen liehe, mif Helm, Lanze und Kettenhemd durch die Strafjen seiner Stadt zu spazieren, so würde er morgen früh höchstwahrscheinlich im Narrenhaus oder auf einem Polizeirevier erwachen. Weshalb? Weil etwas Derartiges nicht Brauch, nicht Sitte ist. Begibt er sich aber während des Karnevals in diesem Aufzug auf die Strafje, so kann es sein, dafj ihm der erste Preis für originelle Maskierung zugesprochen wird. Weshalb? Weil es Brauch ist, sich bei diesem Feste zu verkleiden. So entspringt denn eine so menschliche Handlung wie die des Sich-Kleidens keineswegs unserer eigenen Eingebung; nein, wenn wir uns so und nicht anders anziehen, dann nur, weil es so Brauch ist. Das aber heifjf: das Uebliche, Gebräuchliche tun wir, weil man es tut. Wer aber tut das, was man tut? Nun ja, die Leute. Gewifj. Aber wer sind die Leute? Nun ja, alle, niemand Bestimmtes. Dies ruft uns ins Bewufjtsein, dafj 'unser Leben zu einem mehr denn beträchtlichen Teil aus Dingen besteht, die wir nicht aus eigener Lust und Liebe, nicht aus eigener Eingebung, nicht auf eigene Verantwortung, sondern nur deshalb tun, weil sie von den Leuten gefan werden; und war es vorhin der Staat, so sind es nun die Leute, die uns zu menschlichen Handlungen zwingen, die von ihnen und nicht von uns ausgehen.

Doch noch mehr. Unser gesamtes vitales Verhalten richtet sich nach den Ideen, die wir vom Wesen der Dinge haben. Ziehen wir aber die Bilanz aus diesen Ideen und Meinungen, mit denen und von denen aus wir leben, so werden wir zu unserem Erstaunen inne, dafj wir viele von ihnen, vielleicht sogar die meisten, niemals selbständig und in voller, verantwortlicher Einsicht ihrer Wahrheit gedacht haben, sondern dafj wir sie denken, weil wir sie haben sagen hören, und dafj wir sie sagen, weil man sie sagt. Da hct sich denn dieses seltsame, unpersönliche Man in uns eingenistet, bildet einen Teil von uns, und es denkt Ideen, die wir nur aussprechen. Ja, wer sagt dann aber das, was man sagt? Zweifellos ein jeder von uns, aber wir sagen es in der nämlichen Weise, wie der Schutzmann auf der Strafje uns „half“ zuruft; wir sagen es nicht auf Konto unserer eigenen Person, sondern eines unbestimmten Subjekts, das sich nicht greifen und zur Rechenschaft ziehen läfjt, eines Subjekts, das sich Leute, Gesellschaft, Kollektiv nennt. Und sofern ich nicht aus eigener, individueller Einsicht spreche und denke, sondern einfach reproduziere, was man sagt und was man meint, isf mein Leben nicht länger das meine und bin ich nicht länger die ganz individuelle Persönlichkeit, die ich bin, vielmehr handle ich auf Rechnung der Gesellschaft, bin ein Sozialautomaf, bin vergesellschaftet. In welchem Sinne aber isf dieses kollektive Leben menschliches Leben?

Seif dem Ende des achtzehnten Jahrhunderls neigfe man zu der mystischen Unterstellung, dafj es ein Kollektivbewuhfsein oder einen Gesellschaffsgeisf, eine Kollektivseele gebe, .so etwas wie den „Volksgeist“ der deutschen Romantiker. Ich mache aber nochmals darauf aufmerksam, dafj die Idee von der Kollektivseele, vom Kollektivbewufjfsein willkürlicher Mystizismus ist. Es gibt keine solche Kollektivseele, wenn man unter Seele etwas versteht (und in unserem Zusammenhange kann man nichts anderes darunter verstehen), das verantwortliches Subjekt seiner Handlungen zu sein vermag und sie ausführt, weil sie für es, das handelnde Subjekt, einen klaren Sinn haben. Aha! Dann wären also die Leute, die Gesellschaff, das Kollektiv dadurch gekennzeichnet, dafj sie seelenlos sind?

Der Kollektivseele, dem Volks- oder Nafionalgeist, dem Sozialbewufjtsein wurden die erhabensten und wunderbarsten Eigenschaften zugeschrieben. Zum Beispiel sei sie klüger als der Mensch. Hier nun beschert unsere Untersuchung, ohne dafj wir dies zuvor beabsichtigt hätten und ohne dafj — wenigstens soweit ich weifj — bei den Denkern bisher ein einwandfreier Präzedenzfall vorgekommen wäre, uns eine ärgerliche, ja geradezu niederschmetternde Erkenntnis; nämlich, dafj das Kollektiv etwas Menschliches ist, aber das Menschliche ohne Mensch, das Menschliche ohne Geist, das Menschliche ohne Seele, das entmenschlichte Menschliche.

Dies heifjf, es gibt unter unseren menschlichen Handlungen solche, denen die Hauptmerkmale des Menschlichen fehlen, die kein bestimmtes Subjekt, keinen verantwortlichen Schöpfer, für den sie einen Sinn haben,. ihr eigen nennen können. Also Handlungen, die wohl menschliche Handlungen sind, aber irrational, bar des;Geis|es und der Seele, Handlungen, bei denen mein Tun dem des Grammophonapparafes ähnelt, auf den eine Platte aufgelegt wird, die er nicht versteht; oder dem des Sterns, der blindlings seiner Bahn folgt, oder dem des vibrierenden Atoms, der keimenden Pflanze, des nestbauenden Vogels. Es isf demnach ein irrationales und seelenloses Tun. Und befremdlich ist die Realität, die mit ihm vor unseren Augen auffaucht. Sie nimmt sich aus wie etwas Menschliches und dennoch Entmenschlichtes, Mechanisiertes, Materialisierfes.

Sollte dann die Gesellschaft vielleicht eine besondere Art von Realität darstellen, ein Mittelding zwischen Mensch und Natur, keines von beiden, aber wenig vom einen und viel vom anderen? Oder ist sie eine Quasi-Natur und wie die Natur etwas Blindes, Mechanisches, Schlafwandelndes, Irrationales, Gewaltsames, Seelenloses, das Gegenteil des Geistes, aber gerade deshalb dem Menschen nützlich und notwendig., selber aber weder Mensch noch Menschheit, sondern so etwas wie Natur, Materie, Welt? Wird sich nicht doch noch herausstellen, dafj der Bezeichnung „gesellschaftliche Welt“, die man schon immer in unverbindlicher Weise für sie angewendet hat, tatsächliche Bedeutung zukommt?

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung