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Radikaler Progressismus

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In den letzten Etappen der nach-konziliaren Auseinandersetzungen ist nun ein wortgewaltiger Progressismus aufgewachsen, dessen „kulturrevolutionäres“ Verhalten keineswegs unbedenklich ist, wenn auch die offizielle Kirche weithin schweigt: ein Radikalismus um des Radikalismus willen, der eine Art von Traditionalismus, welcher nur Reaktion auf zumindest wörtliche Übertreibungen ist, provoziert. Es handelt sich beim radikalen Progressismus, der im allgemeinen eine Angelegenheit von Intellektuellen ist, vielfach um den Versuch, das Alte zu zerbrechen, eben weil es alt ist, wenn nicht gar um eine „intrakatholische Aufklärung“.

Im Rahmen eines Progressismus radikaler Art

• werden die Mittel zum Zweck und in ihrer Bedeutung verabsolutiert. Auf diese Weise kommt es zu einer Verschiebung in der Zielsetzung.

• Gleichzeitig wird versucht, die Kirche so zu verstehen, als ob sie nur die organisatorische Gestalt einer Freikirche haben dürfte, wenn nicht die organisatorische Hülle eines ethischen Christentums, ohne jeden institutionellen Charakter.

• Bei manchen radikalen Progressisten hat man zudem den Eindruck, daß sie die Offenbarungswahrheiten an eine „prospektive Wirklichkeit“ anzupassen versuchen, an eine simulierte Wirklichkeit, die es vielleicht einmal geben kann, aber nicht geben muß. Man kann aber nicht die „Zukunft“ bewältigen, wenn man nicht vorher eine Anpassung an die Gegenwart vornimmt. Vielfach kann man in Reformvorschlägen nicht so sehr ein Bekenntis zum Fortschritt, sondern eher eine Fortschrittsgläu-bigkeit, einen ungegenständlichen Enthusiasmus feststellen, der auf Gesellschaftsänderung durch die Kirche abzielt. Die Kirche hat aber nicht die Aufgabe, die profanen Bedingungen zu ändern und die Welt da, wo sie immer weltlich sein wird, zu manipulieren. Stets sind der Kirche — von Grenzsituationen wollen wir absehen — die profanen Bedingungen für ihr Wirken vorgegeben.

Die Entwicklung der kirchlichen Einrichtungen und der Methoden des Lehrens der Offenbarungs,wahrheiten vollzog sich in einem derartigen Tempo, besser in einer derartigen Verzögerung gegenüber den Realitäten, daß Johannes XXIII. eine rasche und radikale Verringerung des Abstandes von Sein und Sollen anregte. Nun ist aber die Seinsweise der Kirche, so wie sie Johannes vorgefunden hatte, im Ablauf eines Jahrtausends gewachsen. Man kann daher nicht einen Zustand, der das Resultat einer tausendjährigen Entwicklung ist, in wenigen Jahren reformieren. Die Entwicklungsschritte müssen nun einmal in einem bestimmten Nacheinander erfolgen. Daher sollte, unseres Erachtens, • ein Tempo vermieden werden, dessen Ergebnisse keinesweg Reform im positiven Sinn sind. Auch die Aufnahmefähigkeit der Masse des christlichen Volkes für das Neue muß berücksichtigt werden. Eine Reform der Kirche mit der Stoppuhr kann einen katholischen Syndikalismus entstehen lassen, einen Anarcho-katholizismus, dessen Vertreter sich lediglich durch ihre Abneigung gegen die offizielle Kirche von Situation zu Situation verbunden wissen.

• In der Frage der Formulierung einer neuen Sexualmoral pflegen manche einen vorsorglich als „katholisch“ etikettierten Pansexua-lismus zu verfechten, der in der Frage der Ehe jener bedenklichen Richtung nahekommt, die man den

Biologisten in der Kirche, welche die Ehe nur im Sinn merkantilistischer Bevölkerungspolitik zu deuten vermochten, vorwirft.

• Bedenklich ist auch der katholische Soziologismus, dem das Katholische nur über eine Änderung der sozialen Bedingungen vollziehbar zu sein scheint. Sozialreformisten in England, früher in Frankreich und viele Linkskatholizismen, wenn säe überhaupt katholisch sind, sehen die Offenbarung überwiegend unter sozialökonomischen Aspekten und erschweren auf diese Weise das Gespräch mit dem demokratischen Sozialismus, der nicht gewillt ist, sich mit dem Austausch von Sozialrezepten zu begnügen.

• Einiges ist auch zur Ökumene zu sagen: Der Versuch so mancher Katholiken, sich einer evangelischen Kirche anzunähern, die es nicht mehr gibt, kann zu einem Marsch in die Leere werden. Auch der Protestantismus, der gegen ein Allzuviel an Kirche gerichtet gewesen ist, hat ein neues Kirchenverständnis gewonnen.

Schließlich sollten alle, denen an einer relativ raschen Reform der Kirche gelegen ist, wie dem Schreiber dieser Zeilen, auch eine gesunde Ehrfurcht vor jenen Traditionalisten haben, die nicht etwa wegen einer sozialen Befangenheit oder aus Trägheit am Alten hängen, sondern in echter Sorge um die Kirche „orthodox“ sind. Jene gekünstelte, nur-intellektuelle Lieblosigkeit, die heute im deutschen Sprachbereich zum Verhaltensstil hei Diskussionen geworden und auf das „Liquidieren“ des Gegners bedacht ist, sollte von Christen nicht akzeptiert und ver-innerlicht werden

Kontinuität im Fortschritt

Wenn ich eingangs darauf hingewiesen habe, daß es so etwas wie eine katholische Mitte nicht nur als Gravitationspunkt von Reform und Gegenreform gibt und weiterhin geben muß, habe ich nicht eine Mitte der Trägheit gemeint, sondern

• eine tragende Mitte, die Kontinuität im Fortschritt sichern hilft,

• eine Mitte, die jenen, die an den „Flügeln“ der Kirche operieren, Maß und Heimfluchtrecht zu geben gewillt ist. Auf diese Weise wird vermieden, daß sich im Vorfeld der Kirche Kleinkirchen von Radikalen und Nur-Traditionalisten etablieren und lautlos ein Schisma entsteht.

Wird das „aggionnamento“ im Sinn der „Herder-Korrespondenz“ als ein „Heutigwerden der Kirche“ verstanden, soll sich die katholische Mitte diesem Heutigwerden verpflichten, aber, um selbst in permanenter Bewegung im Interesse der Aufgaben der Kirche zu bleiben, sowohl auf jene Bedacht nehmen, die mehr dem, was sie „morgen“ nennen, verpflichtet sind als auch auf die vielen, die im Alten in erster Linie das Gute zu sehen veranlagen.

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