Der Tübinger Theologe und Literaturwissenschaftler Karl-Josef Kuschel spricht im FURCHE-Interview über Problematik und Chancen des interreligiösen Zusammenlebens im Zeitalter der Globalisierung.
Die Furche: Während die Zahl der Gläubigen in asiatischen, lateinamerikanischen und afrikanischen Ländern steigt, geht sie in Europa zurück. Was würden Sie sich für Österreich und Deutschland dahingehend wünschen?
Karl-Josef Kuschel: Hier ist ein paradoxes Phänomen zu beobachten: Die Zahl der Gläubigen in Österreich, Deutschland und der Schweiz steigt im Bereich der muslimischen und jüdischen Religionen. Zugleich werden viele Menschen von Religionen, die bisher das Monopol auf Religion hatten, abgestoßen. Das ist eine unglückselige Gleichzeitigkeit. Einerseits wäre es notwendig, dass sich Menschen engagieren für das Mitei-nander der Religionen, andererseits haben viele das Vertrauen in Religionen verloren. Hier geht die Schere auseinander. Ich plädiere dafür, dass gerade auch christliche Gemeinden vor Ort Akteure von interreligiösem Miteinander sein könnten. Dafür gibt es viele ermutigende Beispiele, die zeigen, dass Vertrauensbildung vor Ort gelingen kann: Friedensgebete etwa oder wechselseitige Partizipation am religiösen Alltag des Anderen. Wir brauchen eine Kultur des Miteinander. Hier könnten christliche Gemeinden eine sehr wichtige Rolle spielen.
Die Furche: Warum sieht es in der Praxis dennoch anders aus? Müssten Christen erst noch mutiger werden?
Kuschel: Sie müssten in diesem Sinn noch initiativer werden, sich mehr über andere Religionen informieren und sich fragen: "Was passiert in der anderen Religion neben mir?“ Wie viele Christen wissen, dass gerade der Ramadan begonnen hat? Oder umgekehrt: Wie viele Muslime wissen um das Pfingstfest? Wir haben ein ungeheures Defizit an positivem Wissen. Ich wünsche mir ein Mehr an engagiertem Christsein und nicht noch mehr Säkularismus.
Die Furche: Was kann eine interreligiöse Konferenz einer Stadt wie Graz bringen?
Kuschel: Generell kann man sagen, dass eine so massive Konferenz eine ungeheure Wirkung nach innen wie nach außen hat. Die Wirkung nach innen besteht darin, dass man jene ermutigt, die sich längst schon dem interreligiösen Verständigungsprozess verschrieben haben; dass man sich Öffentlichkeit verschafft, dass man sich austauscht, nach Best-Practice-Beispielen fragt. Nach außen, hineinwirkend in die säkulare Gesellschaft, bedeutet das einen ungeheuren Glaubwürdigkeitsgewinn. Christen machen sich so zu Akteuren friedensstiftender Kommunikation, unbekümmert der religiösen Zugehörigkeit. Der Vorwurf an Christen, "ihr tut ja nichts, habt nur eure eigenen Interessen im Blick“, kann unterlaufen werden, indem man zeigt, dass es das Anliegen engagierter religiöser Menschen vor Ort ist, sich den interreligiösen Verständigungsprozessen zu verschreiben.
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