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Alte Volksweisheit und moderne Forschung

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Der reiche Schatz an Wetterregeln, in denen unsere Vorfahren ihre Erfahrungen niedergelegt und an spätere Generationen weitergegeben haben, enthält eine Fülle von Reimsprüchen, die an einem bestimmten „Lostag“ den Eintritt wärmeren oder kälteren Wetters voraussagen. Statistische Untersuchungen über die Lostagsregeln haben in jüngster Zeit gezeigt, daß sie in der überwiegenden Zahl der Fälle zutreffen. Andere meteorologische Untersuchungen über Störungen und Unstetigkeiten im jährlichen Witterungsablauf haben überraschenderweise ebenfalls zu den alten Bauern- und Lostagsregeln zurückgeführt. Obwohl unsere Väter weder langjährige Beobachtungsreihen noch das Rüstzeug unserer modernen Wissenschaft zur Verfügung hatten, gelang es ihnen doch, Zusammenhänge im Witterungsablauf zu finden, um die sich später ganze Generationen von wissenschaftlichen Forschern bemühen mußten.

Die bedeutendste Arbeit in dieser Richtung war die sogenannte „Singularitätentheorie“ des Professors an der Universität München A. S c h m a u ß. Sie baut auf der Tatsache auf, daß die Kurve der langjährigen Tagesmittel der Temperatur keinen regelmäßigen Übergang etwa von den winterlichen zu den sommerlichen Werten zeigt, sondern daß die erwartete Kontinuität der Kurve durch zahlreiche Unregelmäßigkeiten, Singularitäten, gestört ist. So steigt zwar die Temperaturkurve von Mitte Februar bis anfangs März ziemlich regelmäßig an, doch wird ihre Stetigkeit dann jäh unterbrochen. Die Temperaturen werden selbst bei langjähriger Mittelbildung um einige Grade zurückversetzt. Mitte März klettert die Kurve steil aufwärts, um dann normal und ohne nennenswerte Störungen anzusteigen, bis im Mai wieder deutliche Rückversetzungen der Temperatur eintreten. Am größten werden die Störungen aber im Juni, wo ganze Kurvenstücke eingedrückt sind. Auch im Juli schwankt die Temperaturkurve lebhaft auf und ab. Der Übergang vom Sommer zum Winter geht ebenfalls nicht ohne Störungen vor sich. Ende August ist der Temperatur-abfall viel größer, als man es erwarten sollte. Im September und Oktober sind dagegen auffällige Temperaturerhöhungen zu erkennen. Einem steilen Abfall zu Ende Oktober folgt anfangs November nochmals ein kurzer Kurvenanstieg. Mit kleinen Schwankungen geht es dann abwärts, winterlichen Temperaturwerten entgegen.

Die Gründe für den gestörten Verlauf der Kurve suchte man zunächst in der Unvoll-ständigkeit der Beobachtungsreihen. Aber auch, als man fast zweihundertjährige einwandfreie Messungsreihen zur Verfügung hatte, wollten die Störungen im Kurvenverlauf nicht verschwinden. Sie waren offenbar kein Zufallsergebnis, sondern der Ausdruck regelmäßig wiederkehrender gesetzmäßiger Vorgänge. Professor Schmauß vermutete als erster eine kalenderrnäßige Bindung des Wettergeschehens. Die weitere Verfolgung dieser Idee erwies sich für die Meteorolgie als sehr fruchtbar. Man kannte nun genaue Zeitabschnitte im Jahr, für die ein statistisches Übergewicht bestimmter Entwicklungsrichtungen im Wettergeschehen vorhanden war. In vielen wissenschaftlichen Untersuchungen wurden die Termine herausgearbeitet. Die aufgefundenen „Witterungsnormen“ stimmen mit jenen Terminen fast haargenau überein, die der Bauer aus seinem jahrhundertealten Erfahrungsschatz als „L o s t a g e“ bezeidinet.

Für die Temperaturherabsetzung anfangs März, die in der Jahrestemperatur so deutlich zum Ausdruck kommt, trifft die „Kunigundenregel“ verblüffend genau den Kern der Sache:

Wenn es Kunigunde (3. 3.) friert,

Sie's noch vierzig Nächte spürt.

Für die Zeit um Mitte März, die ein steiles Aufwärtsstreben der Kurve zeigt, sind fast ausschließlich Schönwettersprüche anzutreffen. Uralte Bauernweisheit steckt in dem Satz:

Sankt Gertrud (17. 3.) Die Erde öffnen tut.

Gefürchtet sind die Kälterückfälle im Mai, die den noch, zarten Pflanzen und Blüten Schaden zufügen können. Es sind die bekannten Eismänner, die sich in der Temperaturkurve bemerkbar machen.

Die Temperaturen wurden im weiteren Verlauf des Spätfrühlings und der ersten Sommerhältte kontinuierlich weitersteigen, wenn unser Kontinent nicht der oftmaligen Einwirkung kühier Meeresluftströmungen ausgesetzt wäre. Das Einsetzen dieser Meereslufteinbrüche ist die markanteste Erscheinung des europäisdien Wettergesdiehens. Man bezeichnet dieses Witterungsereignis, das für die Sommerwitterung überaus charakteristisch ist, als europäischen Sommermonsun. Für die Monate mit den häufigsten Regeneinbrüchen, Juni und Juli, gibt es eine Fülle von Lostagsregeln, die sich um bestimmte Termine gruppieren. Die Statistik hat sie als die wahrscheinlichsten für das Eintreten ozeanischer Kaltluftein-brüdie bestätigt. Es sind vorwiegend 40-Tage-Regensprüche:

6. 6.: Regnet's am Medardustag,

So regnet's noch vierzig Tage danach. 11. 6.: Regen an Barnabas

Währt vierzig Tag ohne Unterlaß. 15. 6.: Regnet's am Vitstag,

So regnet's einunddreißig Tag. 19. 6.: Wenn es regnet auf Sankt Gervasius,

Es vierzig Tage regnen muß. 27. 6.: Regnet's am Siebensdiläfertag,

So regnet's noch sieben Wochen lang. 29. 6.: Wenn's regnet an Peter und Paul,

Ist's dreißig Tage faul. 2. 7.: Regen zu Maria Heimsuchung dauert zehn Tage. 10. 7.: Regnet's am Siebenbrüdertag,

So hat man sieben Wochen Regenplag'. 22. 7.: Magdalene weint um ihren Herrn,

Drum regnet's an diesem Tage gern.

Natürlich regnet es in Mitteleuropa nie ganze vierzig Tage oder gar sieben Wochen lang. In der Zahl 40 taucht vielmehr symbolisch die uralte Monatseinheit der vierzig Tage wieder auf. Die auf den Lostag folgende Witterung soll daher nicht als vierzigtägiger Dauerregen, sondern als eine längerdauernde Periode unbeständiger Witterung gedeutet werden.

Die Meereslufteinbrüche zeigen in der zweiten Sommerhälfte abnehmende Stärke, eine Folge des zunehmenden Ausgleichs der Temperaturuntersdiiede zwischen Ozean und Kontinent. Es ist der meist ruhig verlaufende hauptsommerliche Witterungsabschnitt der sogenannten „Hundstage“. Er entwickelt zum letztenmal im Sommer größere Hitze. Der Temperaturabfall Ende August, der in der Kurve der mittleren Temperaturen deutlich zum Ausdruck kommt, weist auf einen jähen Abschluß der letzten sommerlichen Hitzeperiode hin. Der statistisch aufgefundene Termin stimmt haargenau mit der Regel:

Um die Zeit von Augustin Ziehn die warmen Tage hin.

überein. Die Temperaturerhöhungen im September, Oktober und anfangs November werden durch nachsommerliche Schönwetterlagen verursacht, die sich in dieser Jahreszeit häufig einstellen. Sie entsprechen dem „indian summer“ der Vereinigten Staaten von Amerika, Diese Schönwetterperioden, wie wir sie gerade heuer besonders ausgeprägt mit zwiespältigen Gefühlen erlebt haben, sind namentlich im September und im Oktober überaus beständig.

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