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Wissenschaft klärt Irrtümer auf

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Die Datierung des Turiner Grabtuchs ist naturwissenschaftlich gelöst. Bei keinem anderen historischen Gegenstand gab es präzisere Untersuchungen.

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Die Datierung des Turiner Grabtuchs ist naturwissenschaftlich gelöst. Bei keinem anderen historischen Gegenstand gab es präzisere Untersuchungen.

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Am 16. Februar 1989 erschien in der angesehenen Wissenschaftszeitschriften „Nature" eine von einem Team aus 21 Autoren erarbeitete Veröffentlichung, welche Jahrhunderten von Spekulationen den Boden entzog: die Untersuchung des Grabtuchs von Turin hatte ergeben, daß es zwischen 1260 und 1390 gewoben wurde. -

Dieser Zeitraum war genau das, was man aufgrund der Überlieferung erwartet hatte. Man kann nämlich die Geschichte des Grabtuchs zweifelsfrei bis etwa 1354 zurückverfolgen. Schon damals hat der Kult um dieses Tuch Kritik hervorgerufen: Im Jahr 1389 schrieb Pierre d'Arcis, Bischof von Troyes, an Papst Clemens VII., daß sein Vorgänger Henri de Poitiers herausgefunden hatte, daß es von einem Künstler geschaffen worden sei, wofür das Zeugnis dieses Künstlers stehe.

Das Grabtuch hätte wahrscheinlich nie solche Bedeutung erlangt, wenn man es nicht im Licht einer viel älteren Tradition gesehen hätte: Seit dem sechsten Jahrhundert wurden tragbare Bilder von Christus immer populärer und immer realistischer, so daß man von manchen dieser Bilder behauptete, sie seien „nicht von Menschenhand gemacht". Eine dieser Abbildungen befand sich auf dem berühmten Mandylion von Edessa, das bei der Eroberung Konstantinopels im Jahr 1204 verlorenging. Man kennt spätere Kopien davon und kann sich eine Vorstellung davon machen, wie es ausgesehen haben könnte, wenn man im Londoner Victoria und Albert Museum ein Flachrelief aus Elfenbein betrachtet, das eine byzantinische Arbeit aus dem 11. oder 12. Jahrhundert ist und Christus sehr ähnlich zeigt wie das Grabtuch von Turin.

Es spricht in der Tat sogar vieles dafür, daß das Grabtuch ein Abdruck eines Fachreliefs ist, auch wenn die Details der Herstellung noch nicht geklärt sind.

Das heißt natürlich nicht, daß mit der Altersdatierung alle Bätsei um das Grabtuch gelöst seien, aber dabei ging es ja immer schon um zwei Fragenkreise: Wann das Grabtuch entstanden ist und wie es gemacht wurde. Es ist zur Zeit etwas Mode geworden, auf die Selbstverständlichkeit hinzuweisen, daß man mit naturwissenschaftlichen Methoden nicht alle Fragen lösen könnte, aber die Frage nach dem Entstehungsdatum des Grabtuchs ist naturwissenschaftlich lösbar, und sie ist gelöst.

Es ist unvermeidbar, daß dadurch Spekulationen von Wissenschaftern aus anderen Wissensgebieten hinfällig wurden: Etwa die Versuche von Historikern, den Weg zu rekonstruieren, auf dem das Grabtuch durch mehr als tausend ziemlich turbulente Jahre über Tausende von Kilometern von Jerusalem nach Südfrankreich gekommen sein könnte; oder der - übrigens nirgends in der kritisch gesichteten, wissenschaftlichen Literatur - publizierte Versuch, zu demonstrieren, daß das Gemisch von Pflanzenpollen, das man auf dem Grabtuch findet, eine Zusammensetzung hat, wie sie nur in der Gegend von Jerusalem und nur zur Zeit um Christi Tod anzutreffen gewesen wäre. Oder der Versuch eines Numismatikers, im Muster der Flecken um die Augen des Mannes auf dem Grabtuch den Abdruck von Münzen zu erkennen, die es nur zu dieser Zeit in Jerusalem gegeben haben soll.

Viele dieser Erklärungen warfen schon immer mehr Fragen auf, als sie beantworteten - die Liebe zu einem Gegenstand erzeugt nun einmal massive Voreingenommenheit und fördert eine selektive Sichtweise. Dagegen hilft nur institutionalisierte wechselseitige Kritik zur Eliminierung von Vorurteilen. Diese wechselseitige Kritik wurde in die Vorbereitungen zur Datierung des Grabtuchs von Turin in den Jahren 1987 bis 1988 wahrscheinlich in größerem Ausmaß verankert als bei der Datierung irgendeines anderen historischen Gegenstandes. Es war nicht nur ein Laboratorium, das die Altersbestimmung vornahm, sondern drei der besten Laboratorien der Welt-eines in Arizona, eines in Oxford und eines in Zürich. Die Laboratorien waren vom Erzbischof von Turin, der als Vertreter des Vatikan handelte, ausgewählt worden, und Erzbischof Anastasio Ballestrero war mit seinem wissenschaftlichen Berater bei der Probenahme am 21. April 1988 ebenso anwesend wie Vertreter der drei Laboratorien und M. S. Tite vom Britischen Museum in London, der vom Vatikan eingeladen worden war, die Probenahme, die Verteilung der Proben und die statische Analyse der Daten zu überwachen. Bei der Probenahme selbst ist dann jeder einzelne Handgriff gefilmt worden.

Nicht weniger aufwendig waren die Versuche, durch ausgedehnte Kalibrierung der Messungen und Vergleichsmessungen an drei Proben bekannten Alters systematische Fehler auszuschalten - eine Probe aus einem nubischen Grab, die man aufgrund des eingewebten islamischen Musters und der christlichen Tintenbeschriftung ins elfte oder zwölfte Jahrhundert datieren kann, eine Probe von Leinen, das zwischen 110 vor Christus und 75 nach Christus gewebt worden war, und eine Probe van Fäden aus dem Priestergewand des Heiligen Louis d'Anjou aus der Zeit zwischen 1290 und 1310.

Bei der C14-Altersbestimmung geht es darum, den Cl4-Gehalt der Proben zu messen und das war lange Zeit nur durch die Messung ihrer aufgrund der langen Halbwertszeit seltenen radioaktiven Zerfälle möglich. Selbst bei der längsten praktikablen Meßzeit hätte man für eine hinreichend präzise Messung des Alters des Grabtuches eine etwa quadratische Probe mit 23 Zentimetern Seitenlänge der Untersuchung opfern müssen!

Seit Mitte der Siebzigerjahre wurde jedoch eine neue Methode entwickelt: die Beschleuniger-Massen-spektrometrie. Jetzt kann man nicht nur die seltenen radioaktiven Zerfälle von Cl4-Atomen registrieren, sondern die einzelnen C14-Atome direkt zählen. Man bracht daher nur mehr wenige Quadratzentimeter der Probe, die Bestimmung durchführen zu können, und das hat es 1988 möglich gemacht, hinreichend viel Probenmaterial vom Grabtuch zur Verfügung gestellt zu bekommen. Die Proben, an denen letztlich dann - unabhängig voneinander - in den drei Laboratorien die Analysen durchgeführt wurden, wogen nur mehr je 50 Tausendstelgramm!

Die Wissenschafter fassen ihre Be-sultate in einem lapidaren Satz zusammen: „Die Besultate der Badio-kohlenstoffmessungen in Arizona, Oxford und Zürich ergeben einen Bereich für das kalibrierte Kalenderalter von 1260 - 1390 nach Christus (mit einem Vertrauensbereich von mindestens 95 Prozent)."

Wie vorraussehbar, hat man diesen Hinweis auf den „Vertrauensbereich" vielfach so mißverstanden, als ob die Experten ihrem Ergebnis immer noch zu 5 Prozent mißtrauten, weil sie sich irren könnten. Diese Angabe soll jedoch nur das maximal noch mögliche Ausmaß der Ergebnisunsicherheit aufgrund der unvermeidlichen zufälligen Fehler der Messungen charakterisieren: die Wahrscheinlichkeit, daß das Leinen aus einer Zeit vor 1260 stammt, sinkt sehr schnell ab und ist für die Zeit um das Jahr 30 nach Christus praktisch nicht mehr vorhanden.

Die Wissenschafter konstatieren daher auch: „Diese Besultate sind da-her cm endgültiger Beweis dafür, daß das Leinen des Grabtuches von Turin aus dem Mittelalter m__mmm___^_ stammt." Natürlich wird nichts von dem, was Glanz und Elend des Christentums und seiner Kirchen ausmacht, vom Ausgang dieser Altersbestimmung berührt. Und auch das Tuch selbst hat nichts von seiner Faszination verloren: es ist eines der großen christlichen Kunstwerke -weitab von den oft sehr befremdlichen Phantasien, in deren Licht eine anachronistische Grabtuch-Gläubigkeit diese Ikone gesehen haben wollte.

Der Autor ist

Dozent am Institut für Analytische Chemie in Wien

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