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Nun genau untersuchen!

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Wie lassen sich bisherige Erkenntnisse zum Turiner Grabtuch (siehe Seite 1) und Radiokarbontest auf einen Nenner bringen? Was meint ein guter Kenner dieser Materie?

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Wie lassen sich bisherige Erkenntnisse zum Turiner Grabtuch (siehe Seite 1) und Radiokarbontest auf einen Nenner bringen? Was meint ein guter Kenner dieser Materie?

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Wenn das Turiner Grabtuch kein Kunstwerk, keine Ikone ist, was ist es?

Die Antwort ist so einfach wie zwingend: eben ein echtes Leichentuch eines Gekreuzigten aus der Zeit zwischen 1260 und 1356. Natürlich stört es ein wenig, daß wir nur für die Zeit des frühen und hohen Mittelalters und nur für den Vorderen Orient verstreute Nachrichten über die Hinrichtung durch Kreuzigen besitzen, nicht aber für den angegebenen späten Zeitraum und für den Westen. Gravierender ist, daß jeder -das galt auch für das Spätmittelalter — diesen Gekreuzigten des Antlitzes sowie der vielen Jesustypischen Wundmale wegen auf Anhieb mit Christus identifiziert: Geißelung, Dornenkrone, Seitenwunde, ungewöhnliche ehrenhafte Bestattung des Exekutierten und sein noch ungewöhnlicheres Verschwinden aus dem Tuch vor dem Eintreten der Verwesung waren keineswegs übliche Bestandteile einer Kreuzigung, erklärten sich vielmehr aus der spezifischen Leidensgeschichte des Nazareners.

Daraus ergab sich bislang ein starkes Argument dafür, daß das Turiner Grabtuch nicht nur .aus der Antike, sondern sogar von Jesus stammen könnte. Da aber besonders von den Römern die Kreuzigung in so reichem Maße praktiziert wurde, war es für diese Epoche nicht absolut auszuschließen, daß unter den massenhaft Gekreuzigten zufällig doch auch auf einen anderen Delinquenten alle Jesus-typischen Merkmale zutrafen. Hier haben die C14-Daten eine grundverschiedene Ausgangssituation geschaffen:

Denn im späten Mittelalter war nicht nur die zum Tode führende Kreuzigung etwas Unerhörtes, inzwischen war auch das jedem Kind bekannte, bärtige Christusbild allgemein so verfestigt, daß das Aussehen des Mannes auf dem Tuch in Verbindung mit den Jesus-typischen Merkmalen nicht mehr unbeabsichtigt gewesen sein kann. Dann aber muß nach den Gesetzen der Logik in Turin tatsächlich ein Büd Jesu hegen, aber ein in höchstem Maße makaberes: wurde es doch offenkundig durch den Tod eines anderen Menschen aus Fleisch und Blut erzeugt.

Beim augenblicklichen Stand der Dinge kommt man an der Alternative nicht vorbei: Entweder irrt, aus welchen Gründen immer, der C“-Test, oder zwischen 1260 und 1356 durchlitt ein dem Christusbild der Kunstgeschichte bis in kleine Details frappant ähnelnder Mann — freiwillig oder er-zwungenermaßen — die Passion Christi in einem schauderhaften Schauspiel bis hin zum Kreuzestode, wurde wie Christus in einem reinen Leinen bestattet und vor dem Eintreten der Verwesung wieder daraus entfernt. Während der Grablegung oder auch erst danach müßte sich — unbeabsichtigt oder infolge einer bis heute geheimnisvollen Manipulation—auf dem Tuch das Abbild des Hingeschlachteten formiert haben.

Auf welche Weise schließlich der unheilige Gegenstand in den Besitz des ebenso frommen wie weltläufigen burgundischen Ritters Geoffroy de Charny gelangte, der im September 1356, seinen König rettend und mit dem ehrwürdigen Banner Frankreichs in der Hand, bei Poitiers gegen die Engländer fiel, und dessen Witwe im Folgejahr die erste, in einem Fiasko endende Ausstellung organisierte, bleibt nach wie vor dunkel.

Wenn der Tote von Turin nicht im Altertum starb und nicht Jesus ist, sondern zwischen 1260 und 1356 gekreuzigt wurde, gibt es beim derzeitigen Stand der Forschungen nur eine logisch befriedigende Erklärung: hier liegt eine Reliquie eines haarsträubenden Ritualmordes vor!

Der CM-Test hätte mithin das Turiner Grabtuch nicht nur zur heiligen Ikone Christi degradiert, sondern als einen ganz und gar unheiligen Uberrest eines ganz und gar unheüigen, ja abstoßenden Vorgangs erwiesen. Es gäbe folglich keinen Grund mehr, diesen Gegenstand in der Turiner Kathedrale in einem ehrwürdigen Schrein aufzubewahren (es sei denn, man würde die lange Verehrungstradition als heiligend betrachten), aber schon gar keinen, ihn nicht endlich allen weiterhin interessierten Wissenschaftlern, etwa der internationalen und überkonfessionellen Forschungsgruppe ASSIST, für eine noch gründlichere Untersuchung verfügbar zu machen.

Immerhin ist festzuhalten, daß die Zuverlässigkeit des jetzt abgeschlossenen Experiments nur mit 95 Prozent angegeben wird. Nach Professor Willi Wölfli (Leiter des Instituts für Mittelenergie-Physik an der Technischen Hochschule Zürich und einer der

Hauptbeteiligten am jüngsten Test) bedeutet dies, „daß Größenabweichungen von tausend Jahren oder mehr sehr unwahrscheinlich sind oder praktisch ausgeschlossen werden können“.

Das ist vage genug. Denn 95 Prozent Wahrscheinlichkeit erreichte auch der auf einer Gesamtschau aller bisherigen Forschungen beruhende Indizienbeweis für die Echtheit der Turiner Reliquie als Grabtuch Christi, den vor Jahresfrist Professor Werner Bulst SJ vorgelegt hat. Was nur sehr unwahrscheinlich oder praktisch ausgeschlossen ist, ist tatsächlich nicht unmöglich! Dies gilt im gleichen Maße für Ergebnisse der Natur- wie der Geisteswissenschaften.

Tragen wir also das Turiner Grabtuch zum zweiten Mal in diesem Jahrhundert zu Grabe. Zum ersten Mal taten dies 1903 die damals gesellschaftlich und im uni-

„Die uns verheißene Auferstehung ist vom Alter dieses Linnens unberührt“ versitären Kanon noch hoch im Kurs stehenden Historiker, die nach ihrem quellenmäßig abgesicherten (vermeintlichen!) Nachweis der Fälschung meinten, der Sindone di Torino werde eine Auferstehung niemals mehr beschieden sein. Stolz verkündeten sie den Triumph ihrer „noch exakteren Methoden“ über die Naturwissenschaften, die das Tuch damals für antik erklärt hatten. Es kam anders! Moderne NASA-Techniken bescherten 1978 dem Turiner Leichentuch eine kurze und furiose Auferstehung, während ihm jetzt ebenso moderne Techniken erneut das Grab schaufelten. Warten wir ab, ob es noch einmal aufleben wird—in aller Gelassenheit, denn die uns verheißene Auferstehung ist von der Frage nach Alter und Echtheit dieses Linnens unberührt.

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