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Zwischen Superstar und Sommerpassion

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Ähnlich oft als „unzeitgemäß“ totgesagt wie die Oper wurden die Passionsspiele. In Bozen stellte man bereits nach der 7-Tage-Monsteraufführung von 1514 die städtischen Passionsspielambitionen ein. Einer reformfreudigen Geistigkeit erschienen sie als Ausdruck veralteter Frömmigkeit. Trotzdem stehen heuer, 460 Jahre später, vor der eleganten Architektur des Spielhauses in Erl Wochenende für Wochenende Busse mit Passionsspielbesuchern Schlange, trotzdem fand die Broadway-Inszenierung von „Jesus Christ Superstar“ der kaum dreißigjährigen amerikanischen Passionsspielautoren Tim Rice und Andrew Lloyd Webber in New York tagtäglich ein begeistertes Publikum. Der Einsatz aller Mittel der modernen Bühne (USA) oder eines ganzen Dorfes (Erl, Thiersee, Oberammergau), um das Leben Jesu zu verlebendigen, ist um so erstaunlicher als wir in der ersten christlichen Kunstepoche leben, die kein gültiges Bild des Gottmenschen besitzt und keines hervorgebracht hat, wie Hans Sedl-mayr betont. Doch die Faszination, beharrlich an einem „zeitgemäßen“ Christusbild zu arbeiten, überrascht nicht, wenn wir an einen Gedanken von Otto Mauer anknüpfen. Christus sei nicht nur der Logos, sondern auch die Ikone des Vaters.

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Ähnlich oft als „unzeitgemäß“ totgesagt wie die Oper wurden die Passionsspiele. In Bozen stellte man bereits nach der 7-Tage-Monsteraufführung von 1514 die städtischen Passionsspielambitionen ein. Einer reformfreudigen Geistigkeit erschienen sie als Ausdruck veralteter Frömmigkeit. Trotzdem stehen heuer, 460 Jahre später, vor der eleganten Architektur des Spielhauses in Erl Wochenende für Wochenende Busse mit Passionsspielbesuchern Schlange, trotzdem fand die Broadway-Inszenierung von „Jesus Christ Superstar“ der kaum dreißigjährigen amerikanischen Passionsspielautoren Tim Rice und Andrew Lloyd Webber in New York tagtäglich ein begeistertes Publikum. Der Einsatz aller Mittel der modernen Bühne (USA) oder eines ganzen Dorfes (Erl, Thiersee, Oberammergau), um das Leben Jesu zu verlebendigen, ist um so erstaunlicher als wir in der ersten christlichen Kunstepoche leben, die kein gültiges Bild des Gottmenschen besitzt und keines hervorgebracht hat, wie Hans Sedl-mayr betont. Doch die Faszination, beharrlich an einem „zeitgemäßen“ Christusbild zu arbeiten, überrascht nicht, wenn wir an einen Gedanken von Otto Mauer anknüpfen. Christus sei nicht nur der Logos, sondern auch die Ikone des Vaters.

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Eine allgemein verbindliche Passionsgestaltung gab es im Mittelalter; die barocke erwies sich noch für einen Großteil der Gesellschaft als überzeugend. Das Dilemma heutiger Texte rührt daher, daß sie weder aus Mittelalter- oder Barocktradition stammen, wie mancherorts behauptet wird, auch nicht mit dem Lebensgefühl unserer Zeit verbunden sind, sondern mit jenem des 19. Jahrhunderts. „Alte“ Texte sind kaum älter als 130 Jahre. Die christliche Kunst aber hat im vorigen Jahrhundert „ihr geistiges Feuer und Salz verloren: Sie hat in den Bildkünsten, ohne es zu merken, den Bildbegriff des atheistischen Materialismus übernommen, wonach ein „Bild“ zunächst unter allen Umständen eine materielle und „historische“ Wirklichkeit abzubilden habe.“ Die Ausstrahlung der Passion erlischt jedoch, wenn sie nicht mehr zeitloses Symbol ist, sondern zur historischen Detailmalerei wird.

Frühere Jahrhunderte empfanden die Evangelien stärker als das, was sie sind, als Deutungen und nicht als unverbindliche Erzählungen. Den gravierenden Unterschied zwischen mittelalterlicher und heutiger Passion offenbart bereits das Kostüm: Man empfand nichts als „historisch“, ließ den fanatischen Verfolger Caiphas, den Hohenpriester, nicht jüdisch, sondern im Bisehofsornat der Zeit auftreten, zeigte den bösen Verfolger Christi als pflichtvergessenen Kirchen- und Landesfürsten der eigenen Epoche! Pilatus, der Richter, der aus politischer Opportunität falsch richtet, erschien nicht „römisch“, sondern trug die pelzbesetzte Richterrobe seiner Zeit — Bild eines üblen Richters. Und nach dem Brechen des Stabes erschien hinter ihm leibhaftig „Ju-stitia“ mit düsteren Drohungen. Und Teufel schrien dem Publikum vollends seine Sünden ins Gesicht: dem Bäcker, daß er zu kleine Wecken backe, dem Bierschenken, daß er ein falsches Maß habe usf. So war die Passion in ihrer Glanzzeit aktuelles bis aggressives Gegenwartstheater, das einem naiven Publikum Gruseln vor seinem eigenen Unrecht lehrte, denn die Folterknechte waren nicht irgendwelche böse „Juden“ vor vielen hundert Jahren, sondern verrohte Landsknechttypen der eigenen Erlebniis weit. Der wissenschaftliche Geist des vorigen Jahrhunderts lehrte dagegen, minuziös zu zeigen wie die Ereignisse einst abgelaufen sein mögen. Passion im Kostüm der eigenen Epoche wäre ihm grauenhaft oder lächerlich erschienen. Er interessierte sich für die historisch „echte“ Kleidung von Römern und Juden zur Zeit Christi und war besorgt um die Haartracht des Jesus und um die „richtig“ gebundene Sandale des linken Schachers. Immer „besser“ wurde gezeigt, wie die Ereignisse abliefen und immer weniger warum.

So führt die Passion zu einem ergriffenen Schauen bei einem naiven Publikum. Den weniger Naiven interessiert sie als unverbindliches Kuriosum. Ein historisches Schauspiel zeigt, was irgendwelche besonders bösartig veranlagten Menschen einem unschuldigen Jesus vor vielen vielen Jahren angetan haben. Das Nazarenerzeitalter süßer Schutzengelmalerei machte auch aus Christus ein zartes, ernst blickendes Jesulein mit Mondlichthintergrund, und die Passion des 19. Jahrhunderts ließ über den salbungsvollen Dulder das dynamische Bild des Erneuerers, Herausforderers und Weiteinrichters vollends vergessen. Der Mondlicht-hintergrund ist in Erl und in New York mittlerweile weggefallen. Die Ausstattung wirkt modern, doch Jesus bleibt hier wie dort der fromme Verfolgte, dessen einmaligen Wutausbruch über die Händler Katecheten umständlich mit „heiligem Zorn“ umschreiben, als dürfte Jesus nur Gefühle einer halben Portion und nicht eines ganzen Mannes zeigen. Die Gegenspieler Jesu werden nicht als politische Realität mit Bezug zum Heute, sondern als grimme Märchenfiguren gezeigt. In „Jesus Christ“ am Broadway erscheinen die eifernden jüdischen Gesetzeslehrer auf einer von der Oberbühne herunterbaumelnden Brücke und wirken wie hinterhältige Nachtwächter mit extrem tiefen Bässen und extrem hohen Käppis — alles mit leicht lächerlichem Anstrich. Und wenn Herodes vor Christus herumtanzt und an ihm Interesse zeigt, werden die Verworfenheit des degenerierten Königs und das angewiderte Abwenden Christi zwar spürbar wie nie zuvor, aber das Jesusbild selbst ist trotz moderner Umrahmung das alte geblieben. Denn die bequeme Verdrehung von Broadway bis Oberammergau ist jene, daß die geistliche Obrigkeit der Zeit Jesu, Hoher Rat, Herodes, das Volk usw. als die Bösen und die Hetzer erscheinen, Jesus mit seinen Jüngern dagegen als die „Normalen“ und außerordentlich Sanften, was besonders noch milde Blicke beim Abendmahl unterstreichen.

Doch in Wirklichkeit hat Jesus durch sein „Ich aber sage euch“ die „Normalen“ in ihrer Selbstzufriedenheit aufgescheucht und heftige Reaktionen der Gesellschaft gegen den „Abweichler“ provoziert, die sich überall einstellen würden. Die eigentlichen Passionsereignisse atmen nirgends erhabene Langweile. Denn die Passion ist die unbequemste Tragödie der Weltliteratur. In ihr wird ausgerechnet der ermordet, dessen „Schuld“ einzig darin besteht, daß er kompromißlos die Wahrheit sagt und das Gute verwirklichen will, aber von einer etablierten Gesellschaft, die es sich unter Beachtung gewisser äußerlicher Ragein in dieser Welt bequem einzurichten sucht, als unbequemer Störenfried ihrer „Bürgerruhe“ umgebracht wird, um dieses herausfordernde „Ich aber sage euch“ nicht mehr hören zu müssen. Die tragische Ironie besteht nun darin, daß es der Gesellschaft wohl gelingt, den Körper des unbequemen Mahners zu zerstören, nicht aber seine geistige Aussage, die eigentlich gestört hat. Adolf Holl zeigt „Jesus in sohlechter Gesellschaft“ und spricht (nicht gerade geschmackvoll) von der Kriminalität Jesu, dessen Verhalten von beiden Systemen, dem jüdischen und dem römischen, dem kirchlichen und weltlichen, die hier ausnahmsweise zusammenarbeiteten, als kriminell beurteilt wurde. Jesus hat als Außenseiter das herrschende Nor-mengefüge verletzt und die Gesellschaft hat es verteidigt. Jesus provozierte die ,3raven“, die ganz Gesetzestreuen vor allem auch durch seinen Umgang — Zöllner, Sünder, Ehebrecherin. Dazu Holl: „Heute würde man diese Kreise am ehesten der sogenannten Halbwelt zurechnen.“

Man stelle sich vor, eine .moderne“ Passion würde spürbar machen, daß des Jesus Schicksal nicht historisch, sondern zeitlos ist, weil das Auftreten Christi die Obrigkeit, die Justiz, wo sie selbstgefällig ist, heute herausfordern würde wie damals, daß er den Apparat der Kirche, wo er sich fen rein Weltlichen verstrickt, verurteilen würde wie damals, daß er die selbstzufriedenen Regeleinhalter unter den Kirchengängern stören würde wie damals, daß Christus sich nicht die vor der Gesellschaft Braven und Bequemen aussuchen würde und daß ihn die heutige satte Gesellschaft als Störenfried mit allen ihr möglichen Gegenmaßnahmen kaltzustellen versuchte, um seinen „Aber“-Forderungen zu entkommen — wie damals. Das Wiener Schnitzel mit Bier dn der Pause einer derart in die Zeit gestellten Passion mit spürbarer Kritik am Menschen der Konsumgesellschaft würde dem traditionellen Passionsspielpublikum nicht mehr schmecken. Dieses Publikum besteht heute vorwiegend aus Kindern und älteren Leuten. Diese wiederum sind vielfach Mitglieder kirchlicher Organisationen, etwa Chorsänger. Sie bezeichnen sich als „von vornherein dafür aufgeschlossen.“ Andere, so zeigte sich heuer bei einer Befragung in Erl, finden es gut, diese Geschichte wieder zu erleben, die „man ja von der Schule her kennt.“

Die Darsteller von Christus oder Judas werden in Erl besonders und mit Recht bewundert. Es geht diesen Passionsbesuchern um Bestätigung ihres religiösen Kihdheitsbildes in einer unruhigen Umgebung; um das Erlebnis von guten und bösen „historischen“ Figuren, während sie ihr eigenes Heil auf Grund ihrer Regelerfüllung gesichert glauben. Die Forderung nach einer „modernen“ Passion, die beunruhigendes Zeittheater wie die mittelalterliche sein müßte und alte angemaßte Autorität angesichts der Worte Christi in Frage stellt, würde die Passionsspielorte überfordern. Es würde ein konservatives Publikum verscheuchen ohne daß die Spielorte einen neuen Massenandrang gewinnen. Ein „modernes“ Christusbild, das zur Konfrontation mit den radikalen Ansprüchen Christi zwingt, müßte zuerst das Berufstheater vorbereiten.

Von der Literatur her haben es Autoren wie Holl oder Augstein umrissen — und prompt Anstoß erregt. Man wird dieses betont antispießbürgerliche und teilweise gegen die weltliche Organisation der Kirche gerichtete Bild von Jesus als Provokateur später einmal vielleicht ähnlich tendenziös finden wie jenes im Mittelalter oder Barock, das Jesus zum Bestätiger rechtmäßiger Königswürde stempelte, aber da es eines ist, das an der Selbstzufriedenheit des heutigen Christen zu rütteln vermag ist es ein „modernes und aktuelles“. Der Welterfolg „Jesus Christ Superstar“ ist dagegen erst ein zaghafter Schritt in diese Richtung, und die alpenländischen Pas-siomsspieldörfer aus der Nazarener-tradition bewahren überhaupt vor einer unbequemen Konfrontation mit einem „Jesus in schlechter Gesellschaft.“ Sie retten ein Stück „heile“ Welt mit klaren Linien zwischen „den“ Guten und „den“ Bösen aus dem vorigen Jahrhundert in die verwirrend unruhige Welt, in der wir leben.

Aber erst dann, wenn nicht mehr in der Sprache des vorigen und des ersten Jahrhunderts nacherzählt wird, sondern eine zeitgemäße Dichtung wieder spürbar macht, daß Christus für alle, auch für die heutigen Menschen gepredigt und gelitten hat, wird die Passdon zu einem kritischen Überdenken des eigenen Lebens führen. Diese Dichtung wird die Ereignisse freilich nicht nur von ihrem Buchstaben, sondern muß sie von ihrem Geist her verlebendigen.

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