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Die „dritte Sozialpolitik

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Man kann in jeder Gesellschaft, grob gesprochen, drei Phasen unterscheiden. Die Frühphase (Jugend), die Mittelphase (die im aktiven Leben Stehenden) und die Spätphase. Ohne nun des längeren auf die sehr interessante Frage des geschichtlichen Wandels im Verhältnis dieser Phasen einzugehen, läßt sich die gegenwärtige gesellschaftspolitische Situation stark vereinfacht kurz so bestimmen.

Der erste Stoß der modernen Gesellschaftspolitik galt vor allem der Sicherung der Mittelphase. Dies geschah vor allem durch den Ausbau des Arbeitsrechtes und der Sozialpolitik. Heute zeigt sich dieses Bemühen stark in der Verkürzung der Arbeitszeit und in der dynamischen Anpassung des Einkommens an die wirtschaftliche Produktivität.

Der zweite Stoß der modernen Gesellschaftspolitik richtet sich in den letzten Jahren stark auf die Spätphase der Gesellschaft, also auf die ältere Generation. Das geschieht vor allem durch eine sogenannte Verflachung der Alterskurve, indem das Rentenalter früher einsetzt und die Entwicklung in die Richtung einer Art von „Volkspension" geht. Dadurch soll also die nicht mehr schaffende Generation einen verlängerten Lebensabend bei möglichst umfassender Konsumautonomie erhalten.

Und nun erhebt sich in immer dringenderer Form der Ruf nach der „dritten Sozialpolitik“, die sich vor allem auf die Frühphase der Gesellschaft erstrecken soll, nämlich auf die junge Generation. Die Gründe dafür sind verschiedenartig. Es können nur einige davon kurz angedeutet werden. Einer von ihnen ist zweifellos politischer Natur. Er besteht in der ernsten Sorge der erwachsenen Generation, ob unsere Jugend überhaupt noch imstande ist, die Kulturwerte der gegenwärtigen Gesellschaft zu bejahen und damit auch unter Opfern zu verteidigen. Ein zweiter Grund ist psychologischer Art. Es ist eine bekannte Tatsache, daß in der heutigen Jugend die körperliche Reife mit einem erhöhten Körperbewußtsein früher einsetzt, während die geistige Reife mit dem Ausbau der inneren Selbstkontrolle später eintritt. Das führt zu verstärkten Spannungen in der gesellschaftlichen Frühphase. Dazu kommt, daß die Umweltbelastung für den heutigen Jugendlichen unvergleichlich größer ist als früher. Sie erfolgt vor allem durch die materiellen Überflutungen, die zwischenmenschlichen Versteppungen und das weltanschauliche Schisma der industriellen Gesellschaft. Diese Tatsache trifft insbesondere jene Jugendlichen, die vor der Vollendung der Pubertät in die großstädtisch - industriellen Arbeitsund Lebensprozesse hineingezwungen werden. Es besteht dort die akute Gefahr der „geistigen Abtreibung“, das heißt des Abwürgens des geistig-personalen Lebens, bevor es umweltsreif geworden ist. Um es mit anderen Worten zu sagen: eine ansehnliche Zahl junger Menschen wird geistig unterentwickelt in den Dschungel der industriellen Lebensprozesse getrieben. Diese Räume aber sind so gestaltet, daß sie auf die Dauer nur von einem allseitig entfalteten Charakter bewältigt werden können. Ein dritter Grund für diese „dritte Sozialpolitik“ ist ein ethischer. Zweifellos hat die Mittelphase der Gesellschaft ein Recht, ihre Lebensrechte und Daseinssicherung gesetzlich zu erzwingen. Ebenso hat die Spätphase der Gesellschaft ein Recht auf den erweiterten Lebensabend. Aber ebenso hat die Frühphase der Gesellschaft ein Recht auf die Erweiterung ihres Lebensraumes und auf die Eigenständigkeit des Jungseins. Dieses Recht verdient eine besondere Betreuung und Betonung, weil die junge Generation nur relativ wenig zum Mittel der Selbsthilfe greifen kann. In einer Massendemokratie ist das der Wahlzettel. Über dieses Mittel verfügt aber die Jugend noch nicht.

Zusammenfassend läßt sich also sagen: Das Grundproblem der Jugend in der gegenwärtigen Gesellschaft besteht, soziologisch gesehen, in folgendem: Da das Schicksal der jungen Generation in viel größerem Maß als früher von der Struktur der Gesamtgesellschaft bestimmt wird, ist von dorther auch ein entscheidender Beitrag zur Bewältigung des Jugendproblems zu leisten. Er besteht vor allem in der richtigen Proportionierung der drei Phasen der Gesellschaft, wobei gerade heute die Frühphase im Sinne einer „dritten Sozialpolitik“ einer Ausweitung und Entfaltung bedarf.

Es bleibt nur noch die Frage, auf welchem Wege das zu geschehen hat. Stichwortartig lassen sich vielleicht die wesentlichen Gedanken so formulieren:

• Da auf Grund der empirischen Sozialforschung die stabilisierende Funktion der modernen Familie für die Jugend eindeutig herausgestellt wurde, gehört die verstärkte Familienpolitik unmittelbar in den Raum der Sorge um die junge Generation.

• Wenn es sich in unserer expansiven Wirtschaft darum handelt, das Wachstum des Sozialproduktes beizubehalten, erhebt sich die Frage, wer für dieses Wachstum zu sorgen hat. Das kann dadurch geschehen, daß die junge Generation verhältnismäßig früh und in großen Gruppen in den Produktionsprozeß eingeschaltet wird und daß dafür die Mittel- und Spätphase der Gesellschaft relativ entlastet werden. Es kann aber auch so geschehen, daß die junge Generation relativ später oder nur in begrenzten Gruppen in den unmittelbaren Produktionsprozeß eingeschaltet wird, dafür aber erhöhte Möglichkeiten erhält, ihre personalen Aufgaben der Selbstfindung zu erfüllen. Natürlich wäre das mit einem gewissen Opfer von seiten der Mittel- und Spätphase der Gesellschaft verbunden. Selbstverständlich handelt es sich hier um ein sehr komplexes Problem. Aber es wäre vielleicht der Mühe wert, diese Frage mehr ernst zu nehmen.

® Diese Aufgabe der Sicherung und Ausweitung der Frühphase der Gesellschaft ist in ganz entscheidender Weise eine Frage der verstärkten Schulbildung, der Streuung der kulturellen Werte des Volkes, der Begegnung mit geistigen Werten und der religiösen Verwurzelung. Daraus ergibt sich sofort, daß diese „dritte Sozialpolitik“ nicht zuerst quantitativer, sondern qualitativer Art sein muß. Und es ergibt sich ebenso, daß sie deshalb typisch subsidiär zu sein hat,. Allerdings nicht subsidiär im Sinne der „kleinen Hilfe“ von seiten der Gesellschaft und des Staates, sondern, im Gegenteil, der „großen Hilfe“. Aber der großen Hilfe über die selbständigen Ordnungskräfte der Gesellschaft und durch die Mobilisierung der eigenen Initiative der jungen Generation.

In der Massendemokratie entscheiden die Stimmzettel und die daraus gewonnenen Institutionen und Machtgruppen über den gesellschaftlichen Standort. Die junge Generation verfügt über keines von beiden. Sie hat keine Möglichkeit, ihren Standort streikmäßig zu erzwingen, höchstens durch negativen Protest und eine gesellschaftliche Untergrundhaltung. Das aber infiziert sie an der Wurzel und macht sie skeptisch. Die Gesellschaft bekommt dafür später als Lohn soziale Invaliden und asoziale Bazillenträger. Die Reife einer Demokratie entscheidet sich letztlich in der Lösung jener Probleme, die jenseits des Stimmzettels liegen.

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