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Jeder hat seine Schwächen

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Liebevoll miteinander umzugehen kann man am besten in der eigenen Familie lernen. Davon hängt der Toleranzpegel der ganzen Gesellschaft ab.

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Liebevoll miteinander umzugehen kann man am besten in der eigenen Familie lernen. Davon hängt der Toleranzpegel der ganzen Gesellschaft ab.

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Menschen werden in aller Regel in der Familie, schon als Kin-. der, in ihren Grundhaltungen geprägt. Daher hängt auch der Toleranzpegel der gesamten Gesellschaft in erster Linie davon ab, ob in der Familie gelernt wird, miteinander umzugehen, einander zu akzeptieren. Immer wieder wird gerade in der Familie die Erfahrung gemacht, daß man manches anders sieht und fühlt als der Partner, als die Eltern, als die Kinder. Das tut mitunter sehr weh. Aber es zwingt uns, eine Einstellung zu entwickeln, die „Toleranz” heißt und die in unserer Tradition als Tugend gesehen wird.

Die Sache ist also wert, daß man sich anstrengt und ein bißchen intensiver darüber nachdenkt, aber - wie auf Seite 13 bereits erwähnt - auch unterscheidet. Das auf sexuelle Abenteuer ausgehende „tolerante Paar”, das ein „ebensolches tolerantes Paar” per Zeitungsinserat sucht, hat vermutlich überhaupt keine Vorstellung davon, was Toleranz bedeutet, und daß diese auf die Achtung der Menschenwürde zielt.

Das ist natürlich ein extremes Beispiel. Aber es zeigt, daß man oft nicht mehr so recht weiß, was gemeint ist, wenn Schlüsselwörter bedenkenlos verwendet werden. Manche verstehen ja tatsächlich unter Toleranz den Abbau aller Hemmungen. Andere reden vielleicht von Toleranz und legen lediglich eine Haltung der Wurstigkeit und Gleichgültigkeit an den Tag.

Und dann gibt es noch diejenigen, die sich nach einer Utopie der unbeschränkten Harmonie sehnen. Die wallen überhaupt eine Gesellschaft ohne Entfremdung. Solch eine Gesellschaft hat Toleranz gar nicht mehr nötig, weil dort „alle Menschen Brüder” sind, wie Friedrich Schiller das formuliert und Beethoven in seiner neunten Symphonie bejubelt. Die schwärmerischen Geister von heute fordern Toleranz sozusagen als einen überschwenglichen Vorgriff auf diese Utopie.

Aber die Menschen sind und bleiben unvollkommen. Wir müssen uns anstrengen, um in der Welt, so wie sie ist, mit dieser Un Vollkommenheit zu-recht zu kommen. Eben dazu bedarf es der Toleranz. Auf allen Ebenen.

In diesem Dossier geht es aber nicht um die Toleranz in der umfassenden Menschheitsfamilie, sondern um die heutige Familie. Da gibt es Probleme genug (siehe auch furche 37, Seite 4). Mangelnde Toleranz, Toleranzverweigerung, ist eine Ursache für das Scheitern von Ehen, wie im Interview mit dem international bekannten Heidelberger Familientherapeuten Helm Stierlin zu lesen ist. Auch österreichische Untersuchungen liefern dafür Belege (siehe Seite 15). Der Altmeister der Familiensoziologie in Österreich, Leopold Rosenmayr, zeigt im Gespräch mit der Furche (Seite 16) die häufigsten Probleme auf, die auf ungenügender Toleranz und Kon -zilianz in der Familie beruhen.

Eines freilich lassen die Gespräche der furche mit den Experten deutlich werden: Es genügt nicht, sich mit einem bequemen Bekenntnis zu der Parole „Leben und leben lassen” zu begnügen. Toleranz ist nicht eine Haltung der Bequemlichkeit, sondern ein Produkt der Selbstkultivierung, der Befähigung zur Liebe und einer liebevollen Großzügigkeit dem anderen Menschen gegenüber. Eben deswegen hängt ihre Entwicklung und Bewährung davon ab, wie wir - vor allem und zu allererst in der Familie - lernen, miteinander umzugehen.

Als Erziehungsziel wird Toleranz in Osterreich allerdings noch nicht ganz oben gereiht. An der Universität Linz wurden die Erziehungsziele der Eltern untersucht; Soziologin Liselotte Wilk im Gespräch mit der furche über das Ergebnis: „Als sehr wichtig werden von den Eltern immer noch Ziele wie ,höflich sein' eingeschätzt, gefolgt von ,eigene Ideen entwicklen über ,bereit sein, mit anderen zu teilen'. Dann erst kommt ,Verständnis für andere zeigen'.”

Das ist' in anderen europäischen Ländern nicht anders, wie die große Wertestudie des Pastoraltheologen Paul M. Zulehner zeigt. Im europäischen Schnitt führen die beiden Ziele „Verantwortungsgefühl” und „gute Manieren” vor „Toleranz”. Etwas mehr als ein Drittel der Befragten sehen es übrigens als erstrebenswert an, daß die Kinder zu „hartem Arbeiten”, zu „Sparsamkeit”, „Energie”, „Ausdauer” und „Gehorsam” erzogen werden.

Am unteren Ende der Liste stehen „Selbstlosigkeit”, „fester Glaube” und „Phantasie”...

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