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Wahl zwischen zwei Risken

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Diese Feststellung macht beispielsweise der schweizerischen Atompolitik eben jetzt zu schaffen. Die Industrie, die sich der Reaktorforschung verschrieben hat, verlangt aber, um das Begonnene fortzusetzen, gewaltig erhöhte Bundeszuschüsse. Es macht sich demgegenüber eine starke Strömung im Lande geltend, welche verlangt, daß die Schweiz auf die Weiter- und Eigenentwicklungen auf dem Gebiet der Reaktorforschung verzichte und sich mit Lizenzen begnüge (die gleiche Forderung ist nach der Mirage-Affäre für den Flugzeugbau erhoben worden und bis heute nicht verstummt). Man fürchte* jedoch, daß die Schweizer Industrie durch Verzicht auf Entwicklungen auf einem

zukunftsträchtigen Gebiet in unein-holbaren Rückstand geraten und ihre Stellung auf den Weltmärkten auf diese Weise gefährden könnte. Befürchtungen, gerade auf Gebieten, die bisher den Ruf der Schweizer Qualitätsleistung begründet haben, überrundet zu werden, kommen auch aus Kreisen der Uhrenindustrie. Immer unausweichlicher stellt sich auf immer mehr Gebieten die Frage, wo die Leistungsgrenze der kleinstaatlichen Wirtschaft und Forschung verlaufe und welches Risiko — man kann nur zwischen zwei Risken wählen — das größere und gefährlichere sei: wirtschaftlich zum Domestiken abzusinken oder sich zu übernehmen. Der Kleinstaat Schweiz sieht sich

vor die dringliche Notwendigkeit gestellt, sich rasch darüber klar zu werden, wo er noch Schritt halten kann und auf welchen Gebieten er sich mit einer bescheidenen Sekundantenrolle begnügen muß. Es gilt, die richtige Auswahl in der Forschung, in der Entwicklung und auf allen wissenschaftlichen Gebieten zu treffen. Zu diesem Zweck ist das, was man als Wissenschaftspolitik bezeichnet, unerläßlich. In der Schweiz steckt sie noch in den Kinderschuhen, denn erst jetzt ist von der Landesregierung ein Gremium auf die Beine gestellt worden, das ein Inventar der Probleme und Lösungsmöglichkeiten aufstellen soll: der schweizerische Wissenschaftsrat. Er wird zum ersten so rasch wie möglich einen Gesamtüberblick über das vom Bund, den Kantonen und der Wirtschaft auf wissenschaftlicher Ebene bisher Vorgekehrte zu gewinnen trachten, um dann vor allem die Kräfte und Mittel besser zu koordinieren.

Mißtrauen gegen Machtballungen

So unbestreitbar die Berechtigung der Forderung nach besserer Koordination, nach Arbeitsteilung und vermehrter Rationalisierung auch ist, die föderalistische Kulturpolitik der Schweiz steht hier vor nicht leicht zu überwindenden Schwierigkeiten, welche die Kehrseite von

Eigenarten sind, welche die Eidgenossen nicht mir nichts dir nichts preisgeben möchten. (Die Universitäten sind und bleiben kantonale Institutionen.) Zudem herrscht die Uberzeugung, daß in Wissenschaft und Forschung ebenso wie in der Politik auch heute und morgen nicht das Größte immer auch das Ergiebigste, das Maximale nicht das Optimale zu sein braucht. Der von den Großmächten und den Inte-grationisten abergläubisch geförderte Zug zur Konzentration und zum Gigantischen begegnet in der Schweiz noch immer einem gesunden Mißtrauen. Es ist nicht zuletzt durch die Bücher des Österreichers Leopold Kohr, dessen Begriff der „kritischen Größe“ in Helvetien einleuchtet, bestätigt und bekräftigt worden. Überdies weist man an Hand einleuchtender Beispiele darauf hin, daß kleinere Forschungsstätten und Universitäten (und somit auch kleine Länder) heute ebenfalls noch reale Chancen haben, Pionierleistungen zu erbringen. Es hat zum Beispiel in der schweizerischen Öffentlichkeit Eindruck gemacht, wie die kleine und mit bescheidenen Mitteln arbeitende katholische Universität Freiburg dank Ihrer „guten Nase“ für geistige Aktualität und mit Hilfe des Spürsinns für gute Köpfe es verstanden hat, sich mit ihrem Computer-Zentrum an die Spitze der Operations Research in der Schweiz zu arbeiten und mit dem von Prof. Bochenski geleiteten Ostinstitut unbestrittene Weltgeltung in der Sowjetologie zu gewinnen.

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