Cornel West - Prophet der Moderne

Werbung
Werbung
Werbung

In den USA ist der schillernde Intellektuelle und Kulturkritiker Cornel West ein Star. In Europa kennt ihn - noch - kaum jemand. Ein Buch stellt sein Denken nun erstmals auf Deutsch vor.

Er ist mittlerweile drei Wochen her. Der Weltuntergang. Und wir leben immer noch. Wie verbringen wohl all die Jünger der Apokalypse ihren Alltag? Jagen sie vielleicht die Propheten des jüngsten Tages zum Teufel? Denn wenn man etwas aus dem ganzen Palaver lernen kann, dann vielleicht gerade dies: Die Bedeutung wirklicher - biblischer - Prophetie.

Denn eines ist so offenbar wie das Ende des Maya-Kalenders: Der Hunger nach Prophetie - nach einem Wissen vom Ende - ist groß. Und er steigt weiter, je mehr die Welt rundherum als eine im Niedergang begriffene Welt verstanden wird. Wie könnte man sich den reizvollen, weil simplen apokalyptischen Visionen auch entziehen? Eine sich in Dekadenz suhlende politische Klasse da, eine in Agonie, weil in medialer Geiselhaft liegende demokratische Öffentlichkeit dort. Von alltäglichen Arbeitsrhythmen erschöpfte Individuen dort, sehnsuchtsfrei sich ihrem wunschlosen Unglück hingebende Hedonisten dort. Prophetie kann so einfach sein - die Drastik der Unglücksprophetie zeigt zugleich, woran es im Besonderen mangelt: an einer neuen Kritischen Theorie, die aus Missständen Handlungsoptionen entwickelt, die Zukunft wieder normativ auflädt, die Hoffnungen weckt, statt bloßen Optimismus. Vielleicht ist die Zeit reif für den großen Schulterschluss zwischen Intellektuellen, Zivilgesellschaft und, ja, auch den Religionen als den Statthaltern der Hoffnung. Vielleicht braucht es neue, biblisch geschulte Propheten und Prophetie.

Untrügbares Gespür für Ungerechtigkeit

Sucht man nach "Best Practise“-Beispielen für diese Prophetie, lohnt sich ein Blick über den Atlantik - auf Cornel West. Er zählt zu den schillerndsten öffentlichen Intellektuellen und Kulturkritikern der USA. West ist ein charismatischer Redner und Berater bis in höchste politische Kreise hinein, die Elite-Universitäten Harvard und Princeton streiten sich um ihn; er produziert mit Jugendlichen Hip-Hop-CDs und spielte in zwei Folgen des Blockbuster-Films "Matrix“ mit. West ist ein Phänomen - und er ist Philosoph, Prediger, Prophet.

Dabei ist der 1953 in Tulsa im Mittleren Westen der USA geborene West mit afroamerikanischer Herkunft stets auch ein bescheidener Baptist geblieben. Mit einem untrügbaren Gespür für soziale Ungerechtigkeiten. "Ich wurde und bin ein philosophisch gebildeter ‚bluesman‘, der sich mit der frohen Botschaft Jesu Christi befasst“, sagt er über sich selbst. Der Blues und der Jazz sind für ihn dabei nicht bloße musikalische Formen, sondern "ontologische Arten, frei, mutig und mitfühlend zu sein in einer Welt, die mit der Katastrophe ringt.“

Damit ist Wests Ansatz, den er in den schimmernden Begriff "Prophetischer Pragmatismus“ zusammenfasst, grob umrissen. Denn genau das will West sein: Ein Prophet, der nicht das Ende der Welt vor-aussagt, sondern - ganz biblisch - Missstände aufdeckt, um zu verändern. Und zugleich ein Pragmatist, also ein Mensch, der sämtliches Denken und Philosophieren unter den Primat der Praxis, des verändernden Tuns stellt, der dem Diktum Adornos folgt, dass das Bedürfnis, fremdes Leiden "beredt werden zu lassen (…) Bedingung aller Wahrheit“ ist.

Umso mehr mag es überraschen, dass West in Europa bislang kaum bekannt ist. Dabei war es kein geringerer als Jürgen Habermas, der bei einem Philosophen-Gipfel vor West den Hut zog und nach dessen Vortrag sagte: "Man hat das Gefühl, dass jeglicher akademische Diskurs albern ist und man sofort auf die Straße gehen sollte.“ Sofort auf die Straße gehen - für Gerechtigkeit, für eine Wiedergewinnung der politischen Souveränität des Volkes über die Geldmärkte - ein Gefühl, das im krisengeschüttelten Europa viele verspüren.

Wests Prophetie weist damit in eine Form zivilgesellschaftlicher Praxis ein - mit einem gehörigen Schuss Aktionismus, gewiss, aber welche Form politischer Praxis kommt heute ohne eine Besetzung der medialen öffentlichen Arenen aus? Und darin ist West ein Meister. Er solidarisierte sich mit der Occupy-Bewegung, lädt zur "Poverty-Tour“ durch Amerika ein und Hundertausende "Follower“ hängen an seinen virtuellen Lippen in Facebook und Twitter.

Und West scheut vor konkreter politischer Intervention nicht zurück. Zählte er 2008 zu den Unterstützern von Barack Obama, mutierte er zuletzt zu einem seiner schärfsten Kritiker: "Obama benutzte die Sprache der Hoffnung und des Freiheitskampfs, die Sprache des Blues-Manns und der Bürgerrechtler in der Tradition Martin Luther Kings. Doch es erwies sich, dass er ein Neoliberaler war, ein Vertreter des billigen amerikanischen Optimismus, verwurzelt in der Wall-Street-Oligarchie.“ Nicht verzeihen kann er Obama, dass dieser in Kauf nimmt, dass in Pakistan Zivilisten durch US-Drohnen ums Leben kommen, dass die Armut stetig steigt und sich die Regierung im budgetären Würgegriff der Wall Street befindet.

Ein prophetisches Christentum

Grund genug also für die kontinentaleuropäische Philosophen-Szene, West als Polit-Aktionisten zu brandmarken und mit Nichtbeachtung zu strafen. Zu Unrecht. Denn gerade für eine normativ ausgezehrte Philosophie-Szene gibt es von West etwas zu lernen. So erinnert er etwa die Philosophen an die Herkunft der Philosophie, die in der Antike immer auch ins Politische drängende Lebenskunst war. Eine Kampfansage an all jene, die Philosophie als analytisches Geschäft betreiben, die glühendes Hoffen und Drängen, Tragik und Leiden aus der Philosophie in die Religion verschieben wollen.

Im Zentrum seines Denkens steht entsprechend die Frage, "was es bedeutet, ein humanes Leben zu führen“. Humanität leitet West dabei von "humare“ ab - also von beerdigen, begraben. Humanität hängt also mit der Fähigkeit des Eingedenkens der Sterblichkeit und Verletzlichkeit des anderen zusammen. Für Freiheits- und Subjektphilosophien allein ist das schon eine Zumutung.

Aber lernen kann man von West auch den Unterschied zwischen Hoffnung und Optimismus. Wenn nämlich die Politik heute den Menschen Optimismus predigt, dann enthält sie ihnen das Wichtigste vor: Hoffnung auf grundlegende Veränderung. Denn die Krise, die die USA und wohl auch weite Teile Europas befallen hat, sei einem tief sitzenden "Nihilismus“ geschuldet, der sich in Hoffnungs- und Ziellosigkeit ausdrückt, in Apathie und Resignation.

Immer wieder ist es dabei die biblische Tradition, die Wests Denken befruchtet, die ihm nicht nur moralische Triebfeder ist, sondern auch Wegzeichen der Hoffnung von einer größeren Gerechtigkeit; eine Hoffnung, die nicht erst mühsam in den Studierstuben gehoben werden muss, sondern die sich im Dreck der Straße, im "Funk“ und "Blues“ beweist: "Der Skandal des Kreuzes erschüttert alle theologischen Anstrengungen.“

West entwickelt die Idee eines gegen jede Form bürgerlicher Religiosität gewandten prophetischen Christentums, dessen Kennzeichen besondere Sensibilität fürs Leiden der anderen, eine "Theodizee-Empfindlichkeit“ darstellt. Er wehrt sich auch gegen alle Versuche, das Theodizee-Problem in der Theorie zu lösen, ohne die Praxis zu ändern. Entsprechend zählt ein Zitat des US-Schriftstellers George Santayana zu seinen Lieblingszitaten: "Religion ist die Liebe zum Leben im Bewusstsein der Ohnmacht.“ Liebe zum Leben, trotz allem. Nicht das schlechteste Hoffnungszeichen zum Jahresanfang.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung