Die dreimalige Aufforderung: "Frag dein Herz!"

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Auch im Islam gibt es das Gewissen als ethische Instanz. Seine Erziehung stellt eine lebenslange Aufgabe dar. Das Gewissen ist nicht etwas, das man hat, sondern etwas, das man macht.

Das Menschenbild wird im Koran weder durchwegs positiv noch ausschließlich negativ gezeichnet; der Mensch trägt eine Neigung zum Guten in sich, aber auch zum Bösen. Das Gewissen wird im Koran als Synonym für das Herz gesehen, wobei es nicht nur Ausgangspunkt des Guten bzw. Bösen ist, sondern zugleich eine kritische Instanz der Reflexion. Ein Beispiel im Koran ist die Kritik an ein Volk, das keine Lehren aus der Geschichte anderer Völker zieht: "Sind sie nicht im Lande umhergereist oder haben sie keine Herzen, um zu begreifen, oder Ohren, um zu hören? Doch nicht die Augen werden blind, sondern es erblinden die Herzen" (Koran 22:46). Über undankbare Menschen heißt es im Koran: "Ihr Herz ist versiegelt. Daher haben sie keinen Verstand" (Koran 9:87). Das Herz bzw. das Gewissen lässt sich also vom Verstand nicht trennen. Das Gewissen ist darüber hinaus die Grundvoraussetzung für Verantwortung.

In einer Umfrage der Zeitung Welt-Online wurde Muslimen folgende Frage gestellt: "Gewissen oder göttliche Offenbarung: Was steht für Sie im Vordergrund?" Diese Frage impliziert die falsche Annahme, dass sich beides gegenseitig ausschließt, und den falschen Schluss, dass für Muslime der Koran ein Katalog an guten und schlechten Dingen enthält, dem man das Gewissen unterordnet.

Zu hinterfragen ist in diesem Sinne auch die Praxis der Muslime in Bezug auf Fatwas, also islamische Rechtssprechungen; Muslime gehen in der Regel mit ihren Fragen, die nicht nur gottesdienstliche Praktiken, sondern oft ihr Alltagsleben betreffen, zu einem Gelehrten und geben seiner Antwort meist das Gewicht einer göttlichen Norm. Dadurch wird nicht nur die Wahlfreiheit der eigenen Entscheidung eingeschränkt, sondern auch die Verantwortung über die resultierende Handlung sowie deren Konsequenzen an den Mufti, den Rechtssprecher, abgegeben.

Gewissen oder göttliche Offenbarung?

Der Prophet Mohammed war sich solcher Problematik bewusst und gab einem, der zu ihm kam, um nach dem Guten und dem Verwerflichen zu fragen, folgenden Rat: "Frag dein Herz!" Dies wiederholte Mohammed drei Mal und sagte weiters zu ihm: "Das Gute ist, was du mit deinem Gewissen vereinbaren kannst, und schlecht ist, was dein Herz ablehnt, auch wenn die Menschen dir immer und immer wieder etwas anderes als Fatwa vorgeben." Durch die mehrmalige Aufforderung, sein Herz zu fragen, brachte Mohammed die Selbstverantwortung der eigenen Entscheidung unmissverständlich zum Ausdruck. Damit ist keineswegs eine grundsätzliche Ablehnung der Instanz der Fatwa gemeint, denn "hör nicht auf sie" war nicht die Aussage, sondern vielmehr ist darunter Folgendes zu verstehen: "Reflektiere was sie dir sagen, entscheide dann du selbst! Deine Entscheidung muss mit deinem Gewissen vereinbar sein, denn du trägst letztendlich die Verantwortung dafür!"

Der Mufti hat die Aufgabe, religiös begründete Handlungsoptionen darzulegen. Diese sollten nicht einem Gesetz gleichgesetzt werden, sonst wird aus ethischem Handeln unreflektiertes Befolgen von Gesetzen.

Nach islamischem Verständnis ist das Gewissen nicht vor Fehlentscheidungen gefeit, daher ist die spirituelle und ethische Erziehung des Gewissens zu einem Maßstab für humanes Handeln ein Hauptanliegen der koranischen Botschaft. Im Laufe seines Lebens internalisiert der Mensch Werte und Normen, auch religiöse; er sammelt Erfahrungen, die das Gewissen prägen. Daher ist die Erziehung des Gewissens eine lebenslange Aufgabe. Das Gewissen ist nicht etwas, das man hat, sondern etwas, das man macht.

Vier Elemente der Außenperspektive

Nun ergibt sich eine zentrale Frage: Wenn das Gewissen von religiösen Normen geprägt wird, wie kann es in der Lage sein, diese Normen kritisch zu hinterfragen? Das Gewissen braucht die Außenperspektive! Im islamischen Kontext ist diese durch folgende vier Elemente gegeben, wobei keines dieser Elemente als Instanz über dem Gewissen steht. Auch das Gewissen steht über keiner der Instanzen.

Das erste Element ist die Vernunft. Sie ist in der Lage, theologische Normen kritisch zu reflektieren und dem Gewissen immer wieder eine neue Grundlage zu präsentieren. Das Gewissen stellt ebenfalls Rückfragen an die Vernunft. Ihm geht es ja ums Einhalten ethischer Normen. Voraussetzung ist, dass einzelne Handlungen nicht als ideal und ethische Normen nicht als Gesetze definiert werden, die der Vernunft keine Anknüpfungspunkte bieten. Es geht um eine Philosophie des Guten, aus der das Verhalten im Einzelnen ableitbar ist.

Dies liefert das zweite Element der Außenperspektive: die koranische Bestimmung des Menschen als "Verwalter", dem verschiedene Ressourcen zur Verfügung stehen. Der Mensch hat den Auftrag, diese Ressourcen (dazu zählen auch seine geistigen und körperlichen Fertigkeiten, aber auch Zeit, Erfahrungen) verantwortungsvoll in seinem eigenen Sinne, im Sinne seiner Mitmenschen und im Sinne des Universums zu verwalten. Für diese Verwaltungstätigkeit wird der Mensch in zweierlei Hinsicht zur Rechenschaft gezogen, einerseits in Bezug auf die Gesellschaft im Diesseits, die von ihren Mitgliedern Loyalität und ehrliches Engagement erwartet, und andererseits im Jenseits Gott gegenüber. Alles, was eine verantwortungsvolle Verwaltungstätigkeit fördert, gehört zum Bereich des Guten, und was diese verhindert, zum Bereich des Schlechten. Eine religiöse Erziehung des Gewissens bedeutet, den Menschen zu befähigen, für sich in seinem jeweiligen Kontext zu erkennen, was für ihn gut ist und was nicht. Um eine Wertebeliebigkeit zu vermeiden, definiert der Koran allgemeingültige Prinzipien, die kontextunabhängig sind, diese sind: Gerechtigkeit, Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit aller Menschen und die soziale Verantwortung.

Das ständige Läutern des Herzens stellt das dritte Element der Außenperspektive dar: Der Koran unterscheidet nämlich zwischen dem "gesunden" und dem "kranken" Herzen. Das Gewissen kann durch die sogenannten "Krankheiten des Herzens" blockiert werden. Damit sind verwerfliche Charaktereigenschaften wie Hochmut, Neid, Hass, Habgier, Egoismus usw. gemeint. Der Mensch hat demnach die ethische Verantwortung, sich selbst zu läutern, d. h. seine guten Eigenschaften zu erkennen und zu fördern und die schlechten zu unterbinden. Gottesdienstliche Praktiken wie Gebet und Fasten haben unter anderem das Ziel, dem Menschen bei diesem Läuterungsprozess zu helfen.

Der Islam geht über das Gewissen hinaus und betont neben dem Resultat einer Handlung auch deren Intention; die rechte Absicht wird als viertes Element der Außenperspektive hervorgehoben: Das Handeln muss von reiner Intention begleitet sein: Gutes muss um des Guten willen verrichtet werden, und nicht etwa, um sein soziales Ansehen zu pflegen oder auch um lediglich kein schlechtes Gewissen zu haben.

Die Bestimmung des Menschen als verantwortungsvoller Verwalter, die kritische Reflexion theologischer Inhalte durch die Vernunft, das Läutern des Herzens und die reine Absicht bilden eine gemeinsame Grundlage für die Herausbildung eines reinen Gewissens.

* Der Autor ist Islamwissenschafter in Wien

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