Ein Reservoir aus Erinnerungssplittern

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Alfred Kolleritsch hat ein Stück österreichische Literaturgeschichte geschrieben: als Begründer und Herausgeber der Literaturzeitschrift und Talenteschmiede "manuskripte" und auch als Autor. Zu seinem 85. Geburtstag wird nun sein Roman "Allemann" neu aufgelegt.

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Alfred Kolleritsch hat ein Stück österreichische Literaturgeschichte geschrieben: als Begründer und Herausgeber der Literaturzeitschrift und Talenteschmiede "manuskripte" und auch als Autor. Zu seinem 85. Geburtstag wird nun sein Roman "Allemann" neu aufgelegt.

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Die österreichische Literatur seit den 1960er-Jahren würde ohne Alfred Kolleritsch anderes aussehen, könnte man etwas überspitzt formulieren. Seit dem ersten hektografierten Exemplar bei der Eröffnung des "Forum Stadtpark" im November 1960 entwickelte sich die Literaturzeitschrift manuskripte rasch zu einer literarischen Talenteschmiede. Über viele Jahrzehnte stellte sie eine Art Nadelöhr und Verbindungssteg zu den Verlagen dar.

Das verdankte sich vor allem Kolleritschs kluger Entscheidung, ein Unternehmen in der Peripherie - oder doch nicht ganz im Zentrum - nicht provinziell zu führen, sondern nach allen Seiten hin offen zu halten: Also mehr zu sein als ein Publikationsforum für die heimische Szene oder eine bestimmte ästhetische Schule. Provinzielle Kämpfe mit lokalen Autoritäten sind ihm dabei nicht erspart geblieben, aber heute ist ihm ein Eintrag auf dem digitalen Stadtportal der Landeshauptstadt gewiss - und die Formulierung, er sei "ein ruhe- und ratloser (!) Denker, der innere Einkehr in seinen eigenen Texten findet", ist dort sicherlich ehrend gemeint.

Denn Alfred Kolleritsch ist eben auch Schriftsteller. Nach seinen beiden frühen Romanen "Die Pfirsichtöter" (1972) und "Die grüne Seite" (1974), die sich beide, durchaus der Zeit entsprechend, mit der Kindheit in seiner südsteirischen Heimat und den problematischen Autoritätsfiguren der Nachkriegszeit beschäftigten, folgten eine Reihe von Gedichtbänden, sodass Kolleritsch primär als Lyriker wahrgenommen wurde. 1989 jedoch überraschte Kolleritsch seine Leserinnen und Leser mit dem Roman "Allemann".

Neuausgabe zum Geburtstag

Der Droschl Verlag schenkt dem Autor nun zum 85. Geburtstag eine - leicht überarbeitete - Neuausgabe dieses Buches, das damals mit dem Thema Aufwachsen im Nationalsozialismus direkt in die Waldheim-Debatte eingriff und durchaus widersprüchlich aufgenommen wurde. Vielleicht ist erst jetzt, im Abstand von einem Vierteljahrhundert, deutlicher zu sehen, was an dem Buch verstörte und es auch heute noch tut.

An der Oberfläche erzählt der Roman die Geschichte von Josef Algebrands Kindheit und Jugend. Im Heimatdorf wie in der eigenen Familie hat die "Bewegung" die Köpfe und Herzen der Menschen invadiert, und im Internat prägt der nationalsozialistische Erziehungsdrill samt Appellen, Exerzierübungen und Dauerbeschuss mit Propagandaphrasen den Zöglingsalltag lückenlos. So weit ist das schon oft erzählt worden. Doch Kolleritschs Roman verweigert sich einer Lesehaltung, die ein Sich-Einrichten in der Abteilung NS-Aufarbeitung ermöglicht und Faschismus als etwas Abgeschlossenes zeigt.

Das Widerständige beginnt bei der Sprache. Sie ist spröde, artifiziell, mitunter auch grammatisch wie verrutscht und trifft damit das Ausmaß der psychischen Schäden oft schmerzhaft genau. Im Mittel der Sprache wird ein doppelter Kampf um Distanzierung ausgetragen, jener des Schülers Josef und jener des erwachsenen Erzählers im Prozess der Erinnerungsarbeit. Unter dem Eindruck eines Begräbnisses, das zu einem Treffen gealterter Ewiggestriger geriet, fährt der Erzähler auf Kur nach Abano Therme. Kuraufenthalte haben ihre Tücken: Sie führen unweigerlich zu einer Konfrontation mit sich selbst und erzwingen eine Beschäftigung mit der eigenen Körperlichkeit. Das ist die Erzählklammer, in die Kolleritsch die 93 durchnummerierten Erinnerungssplitter einbaut.

Sie folgen der Chronologie des Heranwachsens und sind doch willkürlich herausgegriffen, denn sie bleiben auf das Reservoir des Erinnerten angewiesen, unter dem sich immer ein unbekanntes System an erfolgreich Verdrängtem verbirgt. Und natürlich hat der damals erlebende Jugendliche eine andere, von den historischen Ereignissen nur teilweise bestimmte Wahrnehmung seiner Welt. Banales und Alltägliches kann in der subjektiven Wertung gleichauf stehen mit der Ermordung eines Zwangsarbeiters oder der Zerstörung des Internats bei einem Bombenangriff.

Verordnete "Wahrheit"

Am verstörendsten ist vielleicht eine der Grundannahmen des Romans. Pubertäre sexuelle Handlungen unter den Buben - inklusive masochistischer Reaktionen bei Misshandlungen - werden hinaufgedimmt zu einem apokryphen Widerstandspotenzial gegen das autoritäre System, das die Menschen "ganz" will und seine "Wahrheit" flächendeckend über alle und alles ausspannt. Eine Form der Verfügbarkeit über den eigenen Körper hat Josef durch einen Wurm-Befall kennengelernt. Der verordnete Kampf gegen die Parasiten verschaffte ihm einen akzeptierten täglichen Rückzug zu ausgiebigen Darmspülungen, bei dem ihn niemand störte. Das ist verständlich. Bei der Sexualität im Knabeninternat liegt das nicht so klar auf der Hand. Homophilie und Homosexualität waren für faschistische Regime immer gut -ein wenig unter die Oberfläche gekehrt - integrierbar, ja sie gehören zu rechtsradikalen Männerbünden eigentlich dazu.

Irritierend ist auch die Titelfigur. Der Erzieher mit dem Namen eines militärischen Befehls - Allemann - ist verwachsen, hat einen "teuflischen" Klumpfuß und steht damit dem Idealbild eines NS-Recken radikal entgegen. Von ihm stammt der Ausspruch, den der Erzähler im Rückblick als Devise interpretiert: "Wer nicht onaniert, ist kein deutscher Junge." Für den Erzieher geht die Geschichte durch den Verrat einiger Schüler tödlich aus: Er wird hingerichtet. Allemann ist unter diesem Aspekt eine der schrägsten und traurigsten Widerstandsfiguren der Literatur.

Doch Allemann steht im Roman auch noch für eine ganz andere Ebene: Er ist extrem kurzsichtig und liest Bücher in Blindenschrift. Das ist ein Akt körperlicher Aneignung der Schrift und es ist eine Art "Geheimschrift", die sich gegen die hohen Töne und großen Phrasen sperrt und einen anderen, distanzierteren Umgang mit der verordneten "Wahrheit" denkbar macht. Diesen Kontext unterlegt Kolleritsch vielen der Erinnerungsepisoden. Josef "liest" die Landschaft seiner Kindheit, die Veränderungen der Natur, die Gesichter der Menschen und die Straßenzüge der Stadt auf der Suche nach dem Anderen und im Kampf um seine "Unbeteiligtheit" an der NS-Gegenwart, die freilich unerreichbar bleibt. Einen Akt der aktiven Beteiligung - es wird nicht der einzige gewesen sein - hat Josef auch im Gedächtnis bewahrt: Sein Aufgehen in der Jubelmasse beim Besuch eines anderen Klumpfüßigen in Graz, wo er in vorderster Front das Auto Goebbels erreicht und es solcherart in die Wochenschau schafft.

Die Zeitgeschichte hat eine Grenze gezogen

Die philosophierende polnische Fremdarbeiterin Maria Smaragovska, die Josef enigmatische Sprüche zuraunt, repräsentiert direkt und faktisch das Andere. Sie ist wie Josef Algebrand selbst bekannt aus Kolleritschs "Gespräche im Heilbad" (1985) und bleibt hier genauso opak wie sein Freund Johann, Tante Molly oder die eigenen Eltern, keine der Figuren rundet sich zu einem Bild. Und das ist durchaus ein Gewinn. Es geht nicht um die Schuld-Begutachtungen konkreter Figuren, es geht um das große Ganze, das 1945 nicht zu Ende gehen konnte, weil es allem und jedem unheilbar eingeschrieben war und blieb, dem Oberlehrer wie der Wirtin, dem Onkel wie dem Bruder, dem Vater wie dem Sohn. Die Zeitgeschichte hat eine radikale Grenze gezogen, "die auch durch ihn ging".

Als Josef und seine Mitschüler nach dem Krieg in ein katholisches Internat kommen, "blieben die meisten die, die sie waren". Ganz ähnlich formuliert es einer der Bauern beim ersten Dorffest. "Sind wir dankbar, dass wir noch die alten sind." Und dass die Straßen nun asphaltiert werden, da sind sich alle einig, verdankt sich der Autobahn des Führers. "So war in allem Neuen die Asche gegenwärtig."

Allemann

Roman von Alfred Kolleritsch

Droschl 2016.

192 S., geb. € 20,00

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