Kolleritsch - © Foto: APA / Erwin Scheriau

Dem Anderen Raum geben

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Alfred Kolleritsch ist tot. Der deutschsprachige Literaturbetrieb verliert mit ihm, der sich für die „Befreiung des Empfindens“ einsetzte, eine zentrale Figur. Ein Nachruf des Schriftstellers Thomas Stangl.

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Alfred Kolleritsch ist tot. Der deutschsprachige Literaturbetrieb verliert mit ihm, der sich für die „Befreiung des Empfindens“ einsetzte, eine zentrale Figur. Ein Nachruf des Schriftstellers Thomas Stangl.

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Ohne ihn wären wir alle nicht da. Wir würden schreiben und es gäbe Literaturzeitschriften und Verlage, aber den Raum, in dem die ganze österreichische (und ein guter Teil der deutschen) Literatur der letzten sechzig Jahre entstanden ist, ­gäbe es nicht, diesen Raum mit dem Gravitationspunkt des manuskripte-Büros in der Sackstraße in Graz.

Die manuskripte: Eine kleine hektographierte Zeitschrift, die das Provisorische schon im Namen trägt, 1960, also genau zum rechten Zeitpunkt erschienen, kann, sich von Nummer zu Nummer weiter verzweigend (inklusive Feindschaften, internen Zerwürfnissen, Gegenprojekten, das gehört dazu), eine Stadt und ein Land verändern. Dieser andere Klang, den Alfred Kolleritsch und einige Weggefährten in die selbstgerechte Enge des Nachkriegsgraz und -österreich brachten. „Wäre es Musik gewesen / wäre langsam aus den Knospen / vor dem Haus der Raum gewachsen / und zum Sagen frei geworden.“

Es ist bezeichnend, dass einem zum Dichter Alfred Kolleritsch zuerst das einfällt, was er für andere, für die Literatur – und das heißt, für die Freiheit, die Wahrnehmung der Wirklichkeit, die „Befreiung des Empfindens“ (wie einer seiner Gedichtbände heißt) – getan hat. Ihm waren die Texte und Bücher anderer genauso wichtig wie seine eigenen; manchmal scheint es, er hätte seine Position im Zentrum des Literaturgeschehens listig genutzt, um mit seinem eigenen Werk im Schatten bleiben zu können.

Eine neue literarische Realität

Auch in seinen Romanen und Gedichten, so nah sie sich an der eigenen Biographie bewegen, schreit Kolleritsch niemals „Ich“, sondern setzt das Ich, seine Wahrnehmungen, seine Erfahrungen, als eines unter anderem, ins Bild ein.

Die Orte seiner Kindheit und Jugend tauchen ebenso wie Kolleritschs Familie, vor allem Großvater und Vater, immer wieder in seinen Romanen – „Die Pfirsichtöter“, „Die grüne Seite“ oder „Allemann“ – auf; doch sie werden nicht so sehr beschrieben (oder gar nostalgisch beschworen) als vergegenwärtigt und zugleich in eine merkwürdige Art von Modellhaftigkeit versetzt.

Es wäre fragwürdig, in diesem Nachruf eine Lebensgeschichte wieder aufs Format zurückzubrechen, das Lebensläufe eben so haben: diese Geschichte, die in Kolleritschs Texten schon in eine neue Form gebracht ist, in jedem Buch auf etwas andere Weise, aber immer Bild und Gedanken verbindend und so mehr geworden; das Mehr, für das Literatur in den Augen von Kolleritsch stand. In den Figuren seiner Romane – dem Alter Ego Josef, dem Vater Gottfried – wollte Kolleritsch Erfahrungen und Situationen philosophisch durchdenken; statt referierter Vergangenheit und routiniertem Realismus eine neue, charakteristische und bildhafte literarische Realität.

Brunnsee in der Südoststeiermark, wo Kolleritsch als Sohn eines Forstverwalters geboren wurde, der Wald und das Schloss erscheinen in „Die Pfirsichtöter“ zugleich in eine mythologische und philosophische Reflexionswelt hineingedreht und als Orte der sinnlichen Erfahrung, des Schlachtens, Kochens und Essens, bildhaft-konkret geschildert wie die Teiche, die Pfirsichbäume und die wilden Weichseln. Ein Mann namens Zählingsar setzt sich in diesem Roman einmal in einer Gesellschaft mit dem Rücken zu den anderen und beobachtet durch einen Spiegel, was vor sich geht. „Steckte er den Spiegel ein“, heißt es, „steckte er die Welt ein.“ Dabeisein und Nicht-Dabeisein zugleich; Abwendung und Festhalten des Bildes. Ich stelle mir vor, wenn man so einen Spiegel wieder hervorholt, dann beginnt die festgehaltene Welt sich zu regen, zu zittern.

Eines der Geheimnisse, denen sich Kolleritschs Literatur nähert, ist das Geheimnis des Eigenlebens der festgehaltenen Bilder. Was ist ein Bild: ein Bild eines anderen; wie kann man ein Bild von sich selbst haben? Gottfried, einer der Protagonisten der „Grünen Seite“, verstummt vor Schreck, als er das erste Mal fotografiert wird. Davor sagt er: „Ich habe in der Luft einen Kreis gesehen, den ich nicht loswurde. [...] er war wie mein eigener Schatten. Die Enten haben ihn gezogen, und er sickerte in mich hinein.“

In diesem Buch, das die Bruch- und Verbindungslinien von Vätern und Söhnen jenseits aller Klischees von Generationskonflikten nachzieht, bestimmt die Geschichte des 20. Jahrhunderts – die Kriege, die Abhängigkeiten, die Diktatur – das Leben der Figuren; aber niemals ganz. Niemand ist ganz in seinen Erfahrungen zu Hause; auch und gerade weil es Erfahrungen gibt, die so einschneidend sind, dass sie alle Gewissheiten und selbst den Glauben an die Bilder zerstören. Jemand kann, so wie Gottfried gegen Ende des Zweiten Weltkriegs nach dem Tod seines Vaters, mit den frischen Bildern am Marktplatz von den Nazis aufgehängter Deserteure im Kopf, einen Film aus einer Fotokamera ziehen und sagen: „Es muss Licht in die Sache kommen.“

Kolleritschs vorsichtiger, behutsamer Blick auf die Wirklichkeit und die Geschichte ist radikal: Er weiß um dieses bilderlöschende Licht und seine Notwendigkeit in den Momenten, wo alle Bilder falsch und verlogen werden.

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