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Bilanz einer Revolution
Ja, es war eine Revolution, die Frankreich im Mai 1968 auf das tiefste erschütterte. In den gewaltigen Straßenschlachten zwischen Studenten und den Ordnungstruppen, nach einem Streik, der 10 Millionen Arbeiter und Angestellte durch Wochen zum Nichtstun zwang, in unzähligen Aufmärschen, an denen bis zu 1 Million Menschen teilnahmen, geziemt es sich, eine erste, natürlich vorläufige Bilanz dieser Ereignisse zu ziehen.
Seit der großen Revolution 1789 wurde die Nation noch nie von einem solchen Fieber geschüttelt wie in unseren Tagen. Es berührt eigenartig, daß niemand, und dies möge unterstrichen werden, wirklich niemand diese Ausbrüche vorausgesehen hat. Die Regierung mit ihren ausgezeichneten Nachrichtendiensten, die politischen Parteien mit ihrem System der Vertrauensmänner, die Gewerkschaften, welche eine vortreffliche Organisation aufgebaut hatten, sie alle standen den Vorgängen in den ersten Tagen fast hilflos gegenüber und wußten nicht recht, wie sie sich äußern sollten.
Wie war es möglich, daß ein kleiner deutscher Anarchist namens Daniel Cohn-Bendit die mächtige V. Republik und ihren glorreichen Chef soweit herausfordern konnte, daß der Staat beinahe abdankte und Schiffbruch erlitt? Noch zu Beginn des Jahres hatte Ministerpräsident Pompidoustolz erklärt, die Gaullisten wären die Besten, die Frankreich seit Jahrzehnten regierten. Sämtliche Meinungsumfragen gelangten zu dem Schluß, daß mindestens 60 Prozent der Franzosen mit dem Regime einverstanden seien und de Gaulle als den besten Sachwalter der eigenen Interessen ansahen. Wie wenig die leitenden Staatsmänner die Schwere der Krise beurteilten, läßt sich aus dem Umstand ablesen, daß der Ministerpräsident beim Ausbruch in Persien und Afghanistan weilte und de Gaulle selbst eine seiner pompösen Staatsreisen, diesmal nach Rumänien, vorbereitete. Als absolut sicher darf angenommen werden, daß die Gewerkschaften Anfang Mai an keine größeren Streiks dachten und einen Generalstreik als unmöglich beurteilten.
Die Unruhen gingen von Studenten aus, die Besetzung der Betriebe und der Generalstreik von den Jungarbeitern. Sehr oft muß der Trenn- stirch zwischen zwei Generationen festgestellt werden. Die Studenten und Jungarbeiter verwendeten eine Sprache, die Gewerkschaftsfunktionäre und Minister eine andere. So paradox es klingt, der Vertreter eines Ministeriums und sein Gesprächspartner, der in unzähligen Lohnkämpfen ergraute Sprecher der kommunistischen CGT, verstanden sich schneller und besser als ein zwanzigjähriger Hörer der Hochschule, der mit seinem Professor diskutierte, oder der Lehrling, der auf einmal die Autorität eines Betriebsrates anzweifelte. Die Jugend des Landes bestritt die bisher bestehende Gesellschaftsordnung, und weite Teile der Bevölkerung begannen, sich plötzlich Gedanken über die Beziehungen des Menschen zum Staat und die Rolle des Individuums in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu machen.
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