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Ist Gott ein Moskowiter?

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Da Jesus, zum Leidwesen „christlicher“ Antisemiten, Jude war, muß sein Vater auch einer sein.

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Da Jesus, zum Leidwesen „christlicher“ Antisemiten, Jude war, muß sein Vater auch einer sein.

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Bei einem Vortragsabend in Moskau - ich las dies in einer tschechischen Zeitung — kam aus dem Publikum ein Zettel mit der Frage. „Warum spricht die Bibel immer nur von Juden? Warum steht da nichts über die Russen?“ Der Vortragende, ein Literaturwissenschaftler aus Estland, antwortete trocken: „Aus technischen Gründen“ - und beendete die Diskussion.

Daß der oder die Fragende nicht wußte, daß es in biblischen Zeiten noch keine Russen gab, wie auch keine Deutschen, Franzosen oder Engländer, dagegen aber große und mächtige Völker wie Assyrer oder Babylonier, die es schon lange nicht mehr gibt, ist komisch, aber nicht ganz unverständlich in einem Land, in dem man drei Generationen lang kaum etwas über die Bibel erfahren konnte.

Es geht mir nicht um die Ignoranz, sondern um die Überzeugungen, die hinter jener Frage stecken: „Wir sind selbstverständlich das wichtigste, ja das einzig wichtige Volk der Welt, und Gott ist natürlich einer der Unseren.“ Wer käme denn auf den Gedanken, daß er ein komischer Ausländer sein könnte?!

Dies ist — weiß Gott! - keine nur russische Einstellung. Die meisten Polen sind überzeugt ohne darüber nachzudenken, und eben deshalb - , die Mutter Gottes, die „Königin der Polnischen Krone“ sei eine waschechte Polin, strohblond und mit blauen Augen. Die deutschen Soldaten zogen in den Ersten Weltkrieg mit der Losung „Gott mit uns“, ungeachtet dessen, daß die Feinde dasselbe behaupteten; natürlich zu Unrecht. Ich weiß nicht, ob die frommen Bayern so starke Ansprüche an die Heilige Familie stellen wie ihre polnischen Glaubensbrüder. Wahrscheinlich würde es ihnen reichen, daß der Herr kein Preuß“ ist. Denn noch wichtiger als Gott dem eigenen Volk (Stamm, Kirche, Gruppe oder Geschlecht) anzueignen, ist es, ihn nicht den anderen zu überlassen.

Nach christlichem Recht - nicht aber nach dem jüdischen, welches die Volkszugehörigkeit von der Mutter und nicht von dem Vater ableitet - könnte man leicht beweisen, daß Gott Jude sei: Da Jesus, zum Leidwesen „christlicher“ Antisemiten, Jude war, muß sein Vater auch einer sein. Die Juden, die ersten Verkünder des einzigen Gottes, verehren ihn jedoch als Verbündeten, Beschützer und Gesetzgeber, sie machen keine Eigentumsansprüche geltend.

Man muß wohl nicht erklären, daß bewußt oder unbewußt jeder Versuch, Gott für eine Menschengruppe zu vereinnahmen, heidnischer Quatsch ist. Ein echter Gläubiger (falls es solche gibt) versteht es auch ohne theologische Bildung.

Die ganze Sache hat in Wirklichkeit herzlich wenig mit Gott und mit dem Glauben zu tun. Es geht nur darum, etwas für sich in Anspruch zu nehmen, worauf man sich stützen oder berufen kann, womit man sich schmücken und über andere erheben kann. Der Allmächtige ist der Höchste Wert. Man tut es aber auch mit anderen, hohen und weniger hohen Werten. Zu Stalins Zeiten bemühten sich sowjetische „Wissenschaftler“ zu beweisen, daß alle großen Erfindungen von Russen gemacht worden sind.

Schon im Altertum stritten sieben Städte um die Ehre, Homers Vaterstadt zu sein. Einstein sagte einst: „Wird sich meine Theorie bewähren, werden die Amerikaner behaupten, ich sei Amerikaner und die Deutschen, daß ich ein Deutscher bin. Sollte sie sich als falsch erweisen, werden die Amerikaner sage, ich wäre Deutscher und die Deutschen, daß ich Jude bin.“

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