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Seit drei Stunden sind im Regierungspalast die Mitglieder des ungarischen Kabinetts in geheimer Sitzung versammelt. Die Konferenz ist beendet. Trotzdem hat der Außenminister noch einmal das Wort ergriffen.

„Die Frage, was mit den 50.000 Arbeitern geschehen soll, ist noch nicht gelöst. Und sie ist die wichtigste.“

Die Angelegenheit ist geregelt!“ sagt der Regierungschef scharf. „Der Beschluß wurde einstimmig angenommen.“

Die Ressortminister nahmen ihre Aktentaschen und wollten das Sitzungszimmer verlassen. Der Außenminister tat, als bemerkte er es nicht, und fuhr fort:

„Wir müssen irgendeine Geste finden. Das Gleichgewicht unserer Beziehungen zum Dritten Reich muß erhalten bleiben, obwohl es kein Verhältnis auf gleicher Basis ist. Darüber müssen wir uns klar spin, auch wenn es uns unangenehm ist. Die Lage Ungarns dem Großdeutschen Reich gegenüber ist tatsächlich die eines Subalternen und nicht die eines Verbündeten. Wir können diese Situation nicht ändern, wir können sie höchstens gegen eine militärische Besetzung unseres Landes eintauschen. Das wäre noch schlimmer. Ursprünglich forderte man 300.000 Arbeiter von uns. Die Zahl ist auf 50.000 verringert worden. Aber diese müssen wir ihnen geben.“ >

„Meine Regierung wird den Deutschen nicht einen ungarischen Bürger als Sklaven überlassen!“ sagte der Ministerpräsident rot vor Zorn. „Die Sache ist erledigt.“

Der Außenminister ließ nicht locker.

„Das Reich legt großes Gewicht auf die Erfüllung dieser Forderung. Sie wurde uns gleichsam als Ultimatum übermittelt. Die deutsche Industrie braucht dringend Arbeitskräfte. Wenn wir nicht wenigstens 50.000 Leute beistellen, könnte dies fatale Folgen haben. Ich habe Informationen, daß im Falle unserer Weigerung die Besetzung des Landes durch die deutsche Wehrmacht bevorsteht. Es ist meine Pflicht, Sie davon zu unterrichten. Die Verantwortung tragen Sie.“

„Könnte man nicht eine Kompromißlösung suchen?“ schlug ein Minister vor.

„Wenn wir auch nur einen Ungarn als Sklaven nach Deutschland schicken, wird die Situation um so schwieriger sein, und die Geschichte würde uns eine solche Handlungsweise nie vergessen. Daher kann unsere Antwort nur eine kategorische Ablehnung sein. In dieser Sache gibt es keinen annehmbaren Kompromiß!“ sagte der Ministerpräsident mit Entschiedenheit.

„Und wenn wir den Deutschen 50.000 Arbeiter schicken und diese Arbeiter keine Ungarn sind?“ sagte der Innenminister. „In unsern Internierungslagern verfügen wir über 300.000 Fremde. Warum stellen wir nicht sie den Deutschen zur Verfügung?“

„Ich widersetze mich diesem Ausweg“, 6agte der Wirtschaftsminister. „Das kompliziert den Fall noch mehr. Es ist gegen die internationalen Vereinbarungen in bezug auf die Gefangenen und politisch Internierten. Wir sind auf die Sympathien jenseits der Grenzen angewiesen. Stimmen wir einer solchen Lösung zu, dann besudeln wir die Enre der heiligen Stephanskrone. Als einziges Resultat würden wir uns neue Feinde schaffen.“

Nach einer halben Stunde wurde endlich ein Kompromiß gefunden. Die Minister beschlossen, 50.000 nichtungarische Arbeiter nach Deutschland zu schicken, möglichst solche, deren Nationalität nicht feststand. Der Innenminister verpflichtete sich, die Arbeiter nach dem Gesichtspunkt auszuwählen, daß keiner den bestimmten Nachweis erbringen konnte, Angehöriger einer anderen Nation zu sein.

„Auf diese Weise retten wir das ungarische Blut“, sagte der Innenminister.

„Die Geschichte wird uns nie beschuldigen können, Ungarn in die Sklaverei geschickt zu haben. Wir verfolgen einen so edlen Zweck, daß die Geschichte uns die angewendeten Mittel verzeihen wird!“

Graf Bartholy, der ungarische Pressechef, betrat sein Büro und rief seine Sekretärin. Er wollte ihr den offiziellen Text der in geheimer Ministerratssitzung gefaßten Beschlüsse diktieren.

„Ein Mensch, dessen Ehre und Würde man nicht respektiert, ist ein Sklave!“ sagte er zu sich selbst. „Wer heute nach den Grundsätzen der Moral zu leben wünscht, verurteilt sich zum Selbstmord. Unsere Gesellschaft verbietet Würde und persönliche Ehre, und damit das Leben eines freien Mannes. Sie duldet nur das Dasein von Sklaven. Aber das kann nicht von Dauer sein. Eine Gesellschaft, in der die Menschen — vom Minister bis zum Stiefelputzer — Sklaven sind, muß in sich zusammenfallen. Je schneller, je besser!“

„Haben Sie etwas gesagt, Herr Minister?“ fragte die Sekretärin, die eben hereinkam.

„Nein! — Schreiben Sie, bitte: Offizielles Kommunique. In seiner gestrigen geheimen Sitzung hat der Ministerrat beschlossen, die Visa- und Reisebestimmungen für ungarische Arbeiter, die nach Deutschland wollen, um sich in verschiedenen Zweigen der Industrie auszubilden, zu erleichtern. Die Zahl der Arbeiter, denen die Regierung die Ausreise erleichtern wird, ist vorläufig auf 50.000 begrenzt. — Das ist alles. Teilen Sie es sofort den Zeitungen mit. Es soll auf der ersten Seite stehen!“ ordnete Graf Bartholy an.

Am Abend speiste Graf Bartholy mit seinem Sohn Lucian, der zugleich sein Kabinettschef war, in einem Restaurant. Beim Kaffee sagte der Graf seinen Sohn:

„Wie stellst du dich zu der Frage der nach Deutschland verschickten Arbeiter?“

„Ein wahres K.-o. im politischen Ring!“ sagte Lucian. „Das Verfahren ist meisterhaft. An Stelle von Ungarn schicken wir den Deutschen einige Zehntausend fremder Arbeiter, die in den Gefängnissen und Lagern zusammengeklaubt worden sind. Die deutsche Anmaßung verdient diese Lektion. Die Idee ist genial!“

„Weißt du, daß wir dafür von Deutschland verschiedene Begünstigungen erhalten? Oder, um es deutlicher auszudrücken: weißt du, daß wir für diese 50.000 Arbeiter bezahlt werden?“

„Das versteht sich von selbst!“ sagte Lucian. „Wir werden doch den Deutschen keine einzige Kraft unentgeltlich überlassen!“

„Und du fühlst dich nicht gedemütigt von dem Gedanken, daß dein Vater sich heute am Verkauf von Menschen beteiligt hat? Diese Art von Handel ist die letzte Stufe des moralischen Verfalls!“

„Du bist amüsant, Papa! Darum also bist du heute den ganzen Abend so trübe gestimmt...“

„Versuche nicht auszuweichen! Gibst du zu, ja oder nein, daß ich mich heute an einem Sklavenhandel beteiligt habe?“

„Wenn du darauf bestehst, das Problem auf diese Weise zu betrachten, also ja, du hast dich heute an einem Sklavenhandel beteiligt“, sagte Lucian lächelnd.

„Und das stört dich nicht?“

„Das wäre 'absurd! übrigens glaube ich, daß der Grund deiner schlechten Laune woanders zu suchen ist. Das hier könnte nicht einmal der Anlaß zu einer momentanen Verstimmung sein. Wir sind gezwungen worden, Arbeiter nach Deutschland zu schicken. Hätten wir diesen Ausweg nicht gefunden, so hätten wir Ungarn schicken müssen. Das wäre in der Tat sehr schwerwiegend gewesen.“ „Ja, vom ungarischen Standpunkt aus wäre es schwerwiegender geworden. Aber vom menschlichen Standpunkt aus bleibt es dasselbe: wir haben an die Deutschen lebende Menschen verschachert!“

„Politische Notwendigkeiten, Papa! Wir können uns ihnen nicht entziehen.“

„Europa hat den Sklavenhandel vor einigen hundert Jahren abgeschafft. Die letzten Menschen, die verkauft wurden, waren die Neger in Amerika. Heute ist der Sklavenhandel auf der ganzen Welt verboten. Die Abschaffung des Sklavenhandels ist eine der höchsten Errungenschaften unserer Zivilisation. Und jetzt drehen wir das Rad der Geschichte zurück und nehmen den Sklavenhandel wieder auf. Vom zwanzigsten Jahrhundert sind wir mit einem Satz über die Renaissance und das Mittelalter hinweg in die vorchristliche Zeit zurückgekehrt!“

„Aber Papa, man darf doch die Dinge nicht so tragisch nehmen. Schließlich werden diese Leute in Deutschland nicht an Ketten geschmiedet. Sie gehen als Arbeiter hin.“

„Man kettet sie nicht an, weil sie keine Möglichkeit haben zu fliehen. Die moderne Gesellschaft hat Methoden, ihre Sklaven zu bewachen, die den Griechen und Römern unbekannt waren. Ich denke da nicht nur an Maschinengewehre und Stacheldrahtzäune mit elektrischer Hochspannung, sondern an all die Methoden der bürokratischen Technik, den Menschen zu überwachen: Lebensmittelkarten, polizeiliche Genehmigung, um ein Hotelbett ra bekommen, in einen Zug zu steigen, auf der Straße spazieren zu gehen oder den Aufenthaltsort zu wechseln. Weder di Griechen nc-cü. die Ägypter hätten ihre Sklaven gewechselt, wenn sie über den technischen Apparat unserer Zeit verfügt hätten. Aber die Sklaverei ist dieselbe.“

.Am besten ist es, an all das nicht mehr zu denken“, sagte Lucian. Wir können daran nichts ändern. Wir haben keine andere Wahl. Wir sind nicht das inzige Land, das an Deutschland Sklaven verkauft hat. Rumänien, Kroatien, Frankreich, Italien, Serbien, Norwegen ... fast alle Staaten Europas haben es getan. Was wir persönlich tun könnten, wäre: aus der Regierung austreten und gegen Deutschland kämpfen, weil es Menschen kauft und andere Länder zwingt, ie zu verkaufen. Dann käme eben eine andere Regierung ans Ruder, die den Deutschen weiterhin Sklaven schicken würde. Und wenn es uns auch gelänge, das Deutsche Reich zu vernichten, so wäre das Problem doch nicht gelöst. Die Russen träten an die Stelle der Deutschen, und sie sind die größten Sklavenhalter der Welt. In Sowjetrußland ist jeder Mensch Eigentum des Staates...“

.Und dieser Stand der Dinge erschreckt dich nicht?“

.Nein!“

„Das ist noch viel schlimmer!“ sagte der Graf. „Denn es bedeutet, daß du keine Ehrfurcht vor den Menschen mehr hast. Auch du bist ein Mensch. Also hast du auch keine Achtung vor dir selber!“

„Ich schätze jeden Menschen nach seinem Wert. Ich glaube nicht, daß du mir in dieser Beziehung einen Vorwurf machen kannst.“

„Du schätzt den Menschen, wie du sein Automobil schätzt, weil es ein Objekt von bestimmtem Wert darstellt!“

.Und was gibt es daran auszusetzen?“

„Achtest du den Menschen um seinen eigentlichen, seinen menschlichen Wert?“

„Gewiß! Ich könnte keinem etwas zuleide tun, ohne dabei Mitleid und Gewissensbisse zu empfinden!“

„Auch einem Hund könntest du nicht weh tun, ohne Mitleid zu fühlen, da du weißt, daß er leidet, wenn du ihn mit der Peitsche schlägst. Du hast Mitleid mit den Menschen, wie du es mit jedem beliebigem Lebewesen hast. Ich will wissen, ob du den Menschen um des Menschens willen achtest, um seinen einmaligen unersetzlichen Werkes willen, auch dann, wenn er keinerlei sozialen Wert darstellt und dir weder Mitleid noch Zärtlichkeit wie ein Tier einflößt!“

„Diese Frage habe ich mir noch nie gestellt“, sagte Lucian. „Ich weiß, daß ich den Menschen um seines sozialen Wertes willen achte und zugleich als lebendes Wesen. Jedermann denkt und fühlt übrigens wie ich!“ . .Bist du sicher, Lucian, daß die heutige Welt denkt und fühlt wi du?“

„Absolut sicher. Unsere strenge Logik /.wingt uns dazu. Der Mensch ist ein sozialer Wert! Alles andere sind Hypothesen!“ }J

„Das ist erschütternd!“

„Was siehst du darin Erschütterndes?“

„Unsere Kultur, Lucian, ist untergegangen. Sie hatte drei Vorzüge: sie liebte und ehrte die Schönheit, eine Eigenschaft, die sie von den Griechen übernommen hatte. Sie liebte und ehrte das Recht, eine Eigenschaft, die sie von den Römern geerbt hatte, und endlich liebt und ehrt sie den Menschen, eine Eigenschaft, die sie erst spät und unter großen Schwierigkeiten von den Christen gelernt hat. Nur durch Achtung dieser drei Symbole wurde unsere abendländische Kultur das, was sie bis jetzt gewesen ist. Und nun ist das kostbare Erbe — Ehrfurcht vor dem Menschen und Liebe zu ihm — verlorengegangen. Ohne diese Ehrfurcht und ohne diese Liebe gibt es keine westliche Kultur mehr. Sie ist tot!“

„Im Laufe unserer Geschichte ist der Mensch durch viel dunklere Epochen gegangen als die unsere“, sagte Lucian. „Er wurde auf den öffentlichen Plätzen verbrannt, aufs Rad geflochten, als Objekt behandelt und verkauft. Es ist ungerecht,unsere heutige Gesellschaft o hart rri

verurteilen!“

„Ganz richtig, was du sagst! In jenen dunklen Zeiten wußte man nichts vom Menschen, und er wurde aus Barbarei mißachtet und geopfert. Wir hatten gerade angefangen, der Barbarei Herr zu werden, gerade begonnen, den Menschen zu achten! Wir standen erst ganz am Anfang und hätten noch viel zu lernen gehabt. Aber der Beginn des technischen Zeitalters hat alles zerstört, was wir errungen und in Jahrhunderten an Kultur geschaffen hatten. Die Gesellschaft unseres technischen Zeitalters hat die Mißachtung des Menschen wieder eingeführt. Der Mensch ist heute auf seinen sozialen Wert zurückgeschraubt worden. — Wollen wir gehen, es ist spät geworden!“

Lucian sah nach der Uhr.

„Sie steht. Kannst du mir sagen, Papa, wie spät es ist?“

„Fünfundzwanzig Uhr!“

„Das habe ich nicht verstanden!“'

„Das glaube ich dir. Niemand will es verstehen. Es ist fünfzwanzig Uhr, die Stunde, die der europäischen Kultur geschlagen hat!“

Mit Genehmigung des Akademischen Gemeinschaftsverlages, Salzburg, aus dem erschienenen Roman C. V. Gheorghius, „25 Uhr“, 528 Seilen, Ganzleinen S 6i.~.

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