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In Art und Tragweite der Aufgaben erinnert der bevorstehende österreichische Katholikentag an die Situation, vor die sich Ende der achtziger Jahre die Veranstalter des Zweiten Allgemeinen österreichischen Katholikentages in ihrer Programmarbeit gestellt sahen. Die christlich-soziale Erneuerungsbewegung war im Aufbruch begriffen; es galt, alle verfügbaren Kräfte der christlichen Gesellschaftsreform dienstbar zu machen. In einer auf Wunsch des Wiener Fürsterzbischofs Kardinal Dr. Ganglbauer verfaßten „Denkschrift zur sozialen Frage“ bezeichnete 1888 Universitätsprofessor Dr. Franz Schindler, der Meritor der jungen Bewegung, als das Wesen des großen Problems: „Die Erforschung und Anwendung der Mittel, der fortschreitenden Auflösung der christlichen Gesellschaft zu steuern und sie auf eine Grundlage zu stellen, welche ihr die Fortexistenz und neue Blüte sichert.“ Die umfangreiche Denkschrift war als Ratschlag für die Mitglieder des österreichischen Episkopats gedacht; sie sollte den Anteil bezeichnen, den die Kirche an der Gesundung der Volksgemeinschaft zu leisten habe. Schindler legte seinen Lesern eindringlich Ratschläge ans Ilejz, die heute klingen, als ob sie erst gestern und nicht vor mehr als 60 Jahren ausgesprochen worden wären: Die offizielle Seelsorge, die „Pastoration“ in den hergebrachten Formen, reiche nicht mehr aus, wo es sich um die Wiedergewinnung der breiten Volksschichten für ein lebendiges Christentum als Voraussetzung für eine gerechte soziale Neuordnung handle; außerordentliche Maßnahmen müßten ergriffen weiden, um dem Klerus auch außerhalb der Kirche die notwendige enge Fühlung mit dem Volke zu geben. Das Memoire empfahl eindringlich die soziale Schulung des! theologischen Nachwuchses, dazu für jede Diözese die Bestellung eines sozialen Obsorgers, dem es zukomme, an der Seite des Bischofs die von der Kirche ausgehende soziale Wirksamkeit zu lenken; für eine soziale Seelsorge sei es wichtig, sie in den einzelnen Gemeinden auf die berufliche Zusammensetzung der Bevölkerung abzustimmen; alle diöze- sanen Organe Österreichs seien für ein einheitliches Vorgehen in geeigneter Weise zusammenzufassen.

Die hoffnungsvolle Entwicklung, die Ende der achtziger Jahre die christliche Arbeiterbewegung nahm und die in ihren ersten Anfängen einer marxistischen Führung der Arbeiterschaft zuvorzukommen schien, und ebenso die Erfolge der organisatorischen Selbsthilfe der christlichen Stände im Genossenschafts-, Kredit- und Krankenkassenwesen waren dem damaligen starken Antrieb der von zeitaufgeschlos- serien Seelsorgern und Laien getragenen sozialen Aktion zu verdanken.

Freilich blieben die auf lange Sicht abgestellten konkreten Vorsdiläge jener Denkschrift unausgeführt, und auch der Katholikentag von 1889, der sich in mehrtägigen Beratungen mit der sozialen Arbeit beschäftigte, versäumte es, für die Ausführung seiner ausgezeichneten Beschlüsse bestimmte Vorkehrungen zu treffen.

Die Versäumnisse wurden in unsere Gegenwart vererbt, in der noch nicht abmeßbare Umschichtungen im sozialen Gefüge, Veränderungen im Blutkreislauf ctes gesellschaftlichen Organismus im Gange sind. Jedermann kann heute schon aus den veränderten Landsdiafts- bildem an den Rändern unserer Städte und Industrieorte der sich vollziehenden, großen sozialen Umsiedlung gewahr werden, durch die in weite bisherige landwirtschaftliche Räume als neues stark betontes Element die industrielle Siedlung mit Groß- und Kleinbauten hinausgreift.

Die „hinaus ins Freie“ strebende Heimstättenbewegung besitzt unschätzbare Werte, sie wirft aber auch neue soziale Probleme auf. Die geschlossene bodenverwurzelte Gemeinde, die in uralten Erbgängen gefestigt war, ist hundertfach in Auflösung begriffen. Die Umschichtung erfaßt oft genug auch schon die Grundelemente der Gemeinschaft, Ehe und Familie. Hunderte Kleinwohnungsbauten im weiten Umkreise unserer Städte tragen schon ungeschrieben an ihrer Stirnwand die Ablehnung des Kindes. Wie lange noch wird der Bauernstand die Kraftreserve, der ruhende Pol inmitten der Unruhe und untergründigen Bewegung unserer Zeit für die Gemeinschaft bilden? Welche Kraft vermag an seine Stelle zu treten?

Die Umformung der gesellschaftlichen Struktur und ihrer Nebenerscheinungen steht erkennbar erst in ihren Anfängen. Den bereits sichtbaren Bedrohungen, die dieser Prozeß mit sich bringt, mit planmäßiger Aktion zu begegnen, die Gemeinschaft gegen Vermurungen abzuschirmen, fordert die verantwortungsbewußte Handlungsbereitschaft des christlichen Menschen an, sein Werk, sein wortsparendes, konkretes Werk. Ist dafür schon alles geschehen? Haben die tapferen Männer, die schon den Spaten führen, die Unterstützung gefunden, auf die sie im katholischen Sozialwerk Anspruch haben?

Eine der nächsten Aufgaben ist die zuverlässige Abmessung der Reichweite der bisherigen Veränderungen im gesellschaftlichen Organismus, die Ermittlung der am meisten bedrohten Zonen und der Möglichkeiten, das angesprengte Gefüge wieder zu festigen.

Vor allem: Wie kann die Jugend von dem Hineingerissenwerden in eine geistige Heimatlosigkeit bewahrt werden, etwa durch die Bemühungen, wie sie für die Landjugend schon mit Elan und mit Erfolg eingesetzt haben? Die katholische Arbeiterjugend der großen Städte ist noch nicht geborgen von einer ihr entsprechenden, nichtbürgerlichen Organisation. Die große Arbeitsumschau der Jugend, die den kommenden Katholikentag einleitet, wird, so denken wir, mehr als eiöe hoffnungsvolle Verheißung sein. Viel Förderung würde die allgemeine praktische soziale Arbeit er- rihren können durch eine ihr gewidmete periodische Publikation, für die Italiens „Katholisches Institut für soziale Aktivität“ mit seiner Halbmonatsschrift „Orieritamenti Sociali“ ein vorbildliches Beispiel gibt.

So groß der christliche Einsatz ist, den die Gegenwart für eine neue christliche Gesellschaftsordnung fordert, und so tief manche zu überwindenden Hindernisse dunkeln mögen, so fehlt es doch nicht an hellen Stellen im Bilde. Die Mauern, mit denen noch vor wenigen Jahrzehnten der Zugang zu dem arbeitenden Menschen ahgeriegelt war, sind heute so unüberwindlich nicht. Der Zugang mag mühselig sein, aber er führt zum Nächsten, zum Bruder.

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