In Zeiten der ZERRISSENHEIT

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Was müssen Politiker alles können - und was alles aushalten? Welche Systemfehler lauern in der Politik, und was müsste sich am System ändern? Eine konstruktive FURCHE-Debatte.

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Was müssen Politiker alles können - und was alles aushalten? Welche Systemfehler lauern in der Politik, und was müsste sich am System ändern? Eine konstruktive FURCHE-Debatte.

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Verführungen und Verlockungen unterschiedlichster Art, Zeitdruck und Reizdichte, und die Einsamkeit der Macht: Wer in der Politik reüssieren will, bewegt sich auf einem sehr schmalen Grad. Über ausgetretene Pfade, Schleichwege und mögliche alternative Routen.

DIE FURCHE: Herr Strolz, Sie sind mit viel Optimismus und Tatendrang in die Politik gestartet vor wenigen Jahren, haben inzwischen schon Rückschläge und Häme erlebt. Kommt man im tagespolitischen Geschäft schnell am Boden der Tatsachen an?

Matthias Strolz: Natürlich ist es ein Unterschied, darüber zu schreiben und nachzudenken oder es zu tun. Ich war ja über zehn Jahre Politikberater und System- und Organisationsentwickler und war eng am Wirtschaftsbund und an Ministerien und Parteien dran. Der Seitenwechsel war trotz dieses tiefen Einblicks ein komplett neues Erlebnis, weil du es zwar intellektuell durchdenken kannst, aber nicht emotional vorwegnehmen kannst, was es mit dir macht, diese unermessliche Reizüberflutung und Dichte des Geschehens.

DIE FURCHE: Kommt man überhaupt zum mittel- und längerfristigen Planen und Gestalten bei einem Tagestakt vom Morgenjournal um sieben bis zur ZIB 2 um 22 Uhr?

Strolz: Du musst dir immer wieder Räume schaffen.

Anneliese Rohrer: Den Wald (schmunzelt)!

Strolz: Der Wald als Synonym für Räume! Wenn du dir den Raum nicht schaffst mit einer unglaublichen Konsequenz, dann bewegt sich Politik nur im tagespolitischen Reagieren und Hinterherhechten. Das empfinden die Bürgerinnen und Bürger als unzulänglich und abstoßend.

DIE FURCHE: Wiesehr sollen Politiker Ideologen sein und wiesehr aalglatte Profis?

Rohrer: Ein Politiker muss einfach eine klare Vorstellung haben von dem Land, das er gestalten will. Dann kannst du dafür oder dagegen sein, aber diese klare Vorstellung geht schon sehr lange ab. Kreisky hatte eine Vorstellung und war erfolgreich damit. Haider hatte auch eine Vorstellung, aber war zu destruktiv, um sie durchzusetzen. Und Schüssel hatte eine Vorstellung.

DIE FURCHE: Ist es nicht ein Klischee, dass es keine kantigen Politiker mehr gibt vom Format eines Kreisky? Es sind ja ganz andere Zeiten und Herausforderungen.

Rohrer: Das ist nicht dasselbe: Ein kantiger Politiker von Format und einer, der eine Vorstellung von diesem Österreich hat.

Strolz: Auf einer persönlichen Ebene muss man wissen als Politiker: Warum mache ich das? Und für die Partei, die Bewegung muss klar sein: Wohin soll es gehen? Wir NEOS sind jetzt in einer Phase, wo wir diese Visionen und Leitlinien noch einmal ausverhandeln und integrieren müssen, weil so viele dazu gekommen sind, die die Gründungsgeschichte nicht miterlebt haben. Deswegen machen wir nun einen Markenprozess "Kraftwerk NEOS", wo wir noch einmal aufladen: Wie schaut das neue Österreich aus, an dem wir mit bauen?

Rohrer: In Österreich ist das Interesse der Menschen, auch der Politiker, in welche Richtung das Land mittel-und längerfristig geht, sehr gering. Prammer wollte eine Diskussions-Serie machen: "Österreich in 30 Jahren". Da waren keine Abgeordneten, da waren Pensionisten von den Klubs! Deswegen ist es schwierig für Politiker, ihre Vision authentisch zu präsentieren. Diese Kurzatmigkeit ist das Problem, symbolisiert durch Ihre Hechelei.

Strolz: Frau Rohrer, letztens haben sich die Leute zu meiner Pressestunde und ZIB 2 beschwert, dass ich zu ruhig geworden bin. Haben Sie das gesehen? Auf Valium bin ich hineingeschwebt in dieses Studio (lacht)!

Rohrer: Man kann es niemanden Recht machen (lacht).

DIE FURCHE: Frau Rohrer, was müssen gute Politiker heutzutage alles können - und womit müssen sie können?

Rohrer: Naja, die guten Politiker der Vergangenheit sind nicht jene, die wir heute brauchen. Wie Sie immer sagen, Herr Strolz, aber wenig dagegen tun: Das System hat sich überholt. Ein guter Politiker wäre heute jeder, der den Leuten vermittelt: Er meint, was er sagt, und er hat die Kraft, das zu leben.

DIE FURCHE: Das klingt jetzt sehr einfach.

Rohrer: Das klingt sehr einfach, denn die Leute sind sehr einfach. Man muss sie emotional abholen, damit sie sich überhaupt für Politik interessieren.

DIE FURCHE: Gelingt das Herrn Strolz besser als anderen Parteichefs?

Rohrer: Der Herr Strolz sitzt schon tief in der Falle der konventionellen Politiker, auch wenn er rhetorisch eindrucksvoller klingt als viele andere.

Strolz: Einspruch, Frau Rohrer! Woran würden Sie erkennen, dass ich nicht tief in der Falle sitze?

Rohrer: Wenn Sie den Eindruck vermitteln würden: Die Systemänderung, die neue politische Kultur sind Ihnen wirklich ein Anliegen. Wenn Sie aber im Parlament reden, denke ich mir bei dieser Hyper-Rhethorik: Das kann nicht der wahre Strolz sein. In Vorarlberg hat jemand bei einer Diskussion gemeint, alles, was er in der Politik will, sei ein "aufrechter Kerl".

Die Furche: Ist das nicht viel leichter auf einer lokalen Ebene, wo man mit den Leuten direkt zu tun hat, als auf Bundesebene als Spitzenpolitiker?

Strolz: Sicher ist es schwieriger, weil ich einen Filter, Sie Journalisten, dazwischen geschalten habe.

Rohrer: Die Bürger haben zwar ein dumpfes Gefühl, dass sich etwas ändern sollte, aber sie haben keine Motivation, weil sie noch immer vom alten System profitieren. Die Bürgerlichen, die sich heute am meisten über das System aufregen, sind jene, die am meisten profitiert haben von diesem Nachkriegs-System: Ich geb dir was und du gibst mir deine Stimme. Vor zwei, drei Jahren habe ich auch noch geglaubt, man könne eine Veränderung von oben erreichen.

Strolz: Die sollte von unten kommen, nicht?

Rohrer: Ja, von unten.

Strolz: Aber das ist ein Stück schwieriger, als Sie es hier in Ihren Schilderungen durchklingen lassen. Sie haben es ja selber erlebt. Sie haben eine Bewegung der Wutbürgerinnen und Wutbürger angeführt ...

Rohrer: ... die dann zu Mutbürgern mutiert sind ...

Strolz: ... aber diese Initiative hat sich verlaufen. Es braucht unglaublich viel, um diese Dinge, die sich auch in Ihrer Bewegung so ungestüm gezeigt haben, in Form zu bringen. Und das ist eine Qualität, die wir NEOS geschaffen haben - und zwar als einzige in dieser Qualität und Geschwindigkeit in den letzten 70 Jahren. Ich höre Ihre Klage und sage, wir müssen uns selber diese Kritik immer wieder zumuten, ob wir wahrhaftig, unangepasst genug sind. Ich muss aber trotzdem eine Partei im Parlament organisieren.

Die Furche: Wie könnte die Politik lebendiger, partizipativer, transparenter werden?

Rohrer: Es müssten die zwei Parteien zusammen die Mehrheit verlieren, die sich nach 1945 alles gerichtet haben zum Wohle der Bürger, die nun nichts davon wissen wollen. Ich persönlich will aber nicht so eine radikale Änderung, die nach Umsturz riecht, weil ich finde, dass Österreich nicht das Land dafür ist. Strolz: Wir versprechen ja nicht, alles niederzureißen. Es gibt vieles, das gut funktioniert, aber man muss ganz vieles auch ändern in Österreich. Es braucht eine Erneuerungsbewegung, die über Jahre die Kraft aufbaut, um die rot-schwarze Mehrheit, das Machtkartell zu brechen. Auch die Sozialpartnerschaft in dieser Form müssen wir aufbrechen.

Die Furche: Welche Charaktere zieht die Politik, so wie sie sich derzeit präsentiert, an, und welche wären wünschenswert?

Strolz: Politik ist ein Bühnenberuf, da hast du auch ein gerüttelt Maß Narzissten: Sie organisieren sich Aufmerksamkeit, eine Form der sekundären Liebe, die all jene suchen, die in der primären Liebe zu kurz kommen. Kritisch wird es, wenn ich tatsächlich das Egozentrische vor das gemeinsame Ganze stelle. Politik ist eine Dienstleistung für das Volk. Das ist meine persönliche Messlatte.

Die Furche: Es braucht also sehr starke Charaktere, um Verlockungen zu widerstehen.

Strolz: Natürlich wüsste ich, was ich zu tun hätte, wenn ich mich unmoralisch bereichern wollte. Und man muss einen Umgang finden mit dem hyperventilierenden Umfeld - in der Politik gibt es ganz viel, das dich abstumpft. Dieses Gefühl "I am so relevant" muss man immer wieder rahmen im großen Ganzen. Am liebsten schau ich abends in den Sternenhimmel und denke mir: "Die sind echt weit weg und verdammt viele - und ich bin ein kleiner Scheißer hier herunten."

Rohrer: Die Versuchungen für junge, ungefestigte Politiker, zu glauben, sie wären so grandios, sind wahnsinnig groß. Der Versuchung ist Hannes Androsch erlegen, Karl-Heinz Grasser. Wenn du nur Leute um dich hast, die dir deine Grandiosität versichern, glaubst du das. Daher sollten die Leute den Politikern die Wahrheit ins Gesicht sagen.

Die Furche: Frau Rohrer, welche der sieben Todsünden erkennen Sie als typische Politiker-Eigenschaften: Gier, Hochmut, Trägheit, Völlerei, Wollust, Neid, Jähzorn?

Strolz: Aber jetzt nicht alle sieben nehmen (lacht)!

Rohrer: Ja, alle sieben, kurzlebig (lacht)! Im Ernst: Wenn sich die Leute Politikern gegenüber anders verhalten würden, hätten wir viele Probleme nicht. Einerseits kriechen und schleimen die Leute, andererseits lassen sie ihren Aggressionen freien Lauf. Da glaube ich, dass Sie mit Ihrem Begriff der Politik als Dienstleistung zu früh dran sind.

Die Furche: Herr Strolz, kriegen Sie viele Rückmeldungen von Andersdenkenden?

Strolz: Jaja, schon. Ich fahre ja jeden Tag in der Früh öffentlich in die Arbeit, da wirst du angesprochen. Ich teile die Analyse, dass Bürger gegenüber der Politik extrem ambivalent sind - einerseits sehr unterwürfig und obrigkeitshörig, andererseits aber auch völlig respektlos. Dazwischen gibt es auch viele, aber ich habe das Gefühl, dass manche binnen einer Stunde bei einer Gartenparty in beide Extreme changieren. Ich würde mir da eine gewisse Normalisierung wünschen.

Die Furche: Wie könnte das denn gelingen?

Strolz: Naja, die Politiker sind ja genauso ambivalent wie die Bürger. Sie glauben ja auch, sie sind das Wichtigste und gleichzeitig das Letzte - in mangelndem Respekt für die eigene Branche. Das ist eine Einladung an alle ambivalenten Bürger, draufzuhauen. Ich möchte hier ein neues Bewusstsein leben: Politik ist ein Teilsystem der Gesellschaft, nicht das dominante Leitsystem, sondern ein "normaler" Job, der tausendfach erledigt wird - und hoffentlich gut, ansonsten abwählen! Wenn du mit dieser Haltung Politik machst, fragst du als Klubobmann nicht als Erstes: Wo ist mein Dienstauto?

Die Furche: Wie könnte Politik mehr als Bottom-up-Prozess funktionieren?

Rohrer: Indem sich mehr Leute dafür engagieren und die Politik das negative Image verliert, dass Leute sich nur Privilegien sichern.

Die Furche: Sobald sich eine größere Organisation, Partei konstituiert, wird es immer Hierarchien und Privilegierte geben.

Rohrer: Es ist ja gut, wenn Sie das so breit und basisdemokratisch aufstellen können, Herr Strolz, aber ich rede von den alten Parteien: Es würde ÖVP und SPÖ, auch der FPÖ wahrscheinlich, den Grünen überhaupt, sehr gut tun, wenn normale Bürger mitarbeiten würden, ohne sofort an ein Mandat zu denken. Den meisten ÖVPlern ist es wahrscheinlich wurscht, dass diese Partei zum Orkus gefahren wird, weil einmal geht es noch, einmal habe ich noch mein Mandat.

Die Furche: Wieviel Einfluss sollten Berater, PR-Leute haben?

Strolz: Mit Frau Griss hatte ich einige interessante Gespräche darüber. Der Umstieg von der Richterin zur Präsidentschaftskandidatin war für sie schwierig, glaub ich. Man muss den Beratern einen Platz zuweisen, und dann sind sie unerlässlich, aber sie sollen nicht für dich entscheiden, sondern eben beraten. Ein gutes Team halte ich jedoch für wichtig. Politik sollte man nicht als einsame Veranstaltung organisieren.

Die Furche: Mit den NEOS verbindet man die Aufbruchsstimmung, die dann abgeebbt ist, ein bekanntes Phänomen aus Bewegungen. Wie kann man es schaffen, diese Gestaltungslust aufrechtzuerhalten?

Strolz: Wenn man den Einstieg schafft, gibt es eine Phase, wo vieles an Hoffnungen, Wünschen auf dich projiziert wird. Man selbst kann sich dem teils nicht entziehen. Für uns war es aber wichtig, auch die Erfahrung der anschließenden Talfahrt gemacht zu haben. Für mich war der Watschentanz wichtig, den ich selbst mit ausgelöst habe - ob Gedichte oder Cannabis. Das hat mich reifer gemacht.

Die Furche: Das würden Sie jetzt nicht mehr machen?

Strolz: Ich möchte ja wahrhaftig bleiben. Wenn du nichts von dir zeigst, dann wirst du auch nicht wahrhaftig sein. Ich muss halt Acht geben, wie ich Ehrlichkeit lebe -ich würde kein Foto mehr neben einem Baum machen, weil mir das sofort ins Negative verdreht wird.

Die Furche: Würden Sie Ihren Kindern empfehlen, in die Politik zu gehen?

Strolz: Es ehrt und berührt mich, wenn ich bei unseren Töchtern, die zwischen fünf und neun Jahre alt sind, Interesse erkenne. In diesen Bereich hineintreiben würde ich sie nicht. Ich finde, dass du Politik nur machen solltest, wenn es deinem Herzen ein Bedürfnis ist. Sonst würde es dich verbiegen und versauen. Es ist so auch schwer genug. Es ist halt wie eine Waschanlage, wo dich von links und rechts die große Walze frisiert. Du kommst anders raus, als du rein gehst.

rohrer: Da passt aber der Vergleich mit der Waschanlage nicht!

Strolz: Weil da kommst du sauber raus (lacht)! Aber ich habe mich früher als Bub immer gefreut, dass ich im Auto sitze, und nicht das Auto bin (lacht). Die Waschanlage habe ich als mächtige Intervention erlebt.

Die Furche: Frau Rohrer, ist es nicht leichter, in unserer Journalisten-Rolle zu kritisieren und zu urteilen, als sich selbst zu exponieren und anzupacken?

Rohrer: Na absolut. Es sind ja alle Journalisten, die in die Politik geholt wurden, eigentlich gescheitert. Der letzte Fall in der SPÖ ist der Eugen Freund. Bleib bei dem, was du kannst! Du kannst ja auch als Journalist konstruktiv sein und sagen, wie es vielleicht gehen könnte. Wir in Österreich sind auch in den Medien wahnsinnig destruktiv. Ich habe es so satt, dass alle Politiker jämmerlich sind oder Versager. Vielleicht ist das meine Altersmilde. Ich werde oft gefragt: Warum so scharf? Man hofft, vielleicht kapiert es bei dieser Schärfe der Kritik doch einer. Vielleicht hört die ÖVP dann mit ihrer Talfahrt auf.

Anneliese Rohrer

Rohrer begann 1974 bei der Presse, leitete das Innen-und anschließend das Außenpolitik-Ressort. Sie veröffentlichte die Bücher "Charakterfehler. Die Österreicher und ihre Politiker" sowie "Ende des Gehorsams". Zudem initiierte sie die Mutbürger-Bewegung.

Matthias Strolz

Der Vorarlberger ist Parteichef der NEOS und seit 2013 Nationalrats-Abgeordneter. Zuvor war er als Unternehmensberater und als parlamentarischer Mitarbeiter für die ÖVP tätig. Er veröffentlichte u. a. das Buch "Warum wir Politikern nicht trauen ..."

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