Hellmut Butterwecks neue Blicke auf den „Nürnberger Prozess"
Hellmut Butterweck, langjähriger Feuilletonchef der FURCHE, hat einen umfangreichen politischen Essay über den „Nürnberger Prozess“ vorgelegt.
Hellmut Butterweck, langjähriger Feuilletonchef der FURCHE, hat einen umfangreichen politischen Essay über den „Nürnberger Prozess“ vorgelegt.
E s braucht keinen Universitätsabschluss für Geschichte, um historische Ereignisse analysieren zu können. Es genügt ein scharfer und kritischer Geist gepaart mit Sachkenntnis, die entweder aus eigenem Erleben herrührt oder in Bibliotheken und Archiven erworben wurde. Der Journalist, Literat, Sachbuchautor und langjährige Feuilletonchef der FURCHE, Hellmut Butterweck, hat dies bereits mehrmals unter Beweis gestellt. Es gelingt ihm immer wieder, neue Aspekte für die historische Forschung zu erschließen, wenngleich dies nicht immer mit wissenschaftlichen Kriterien einhergeht. Dies war so bei seinen Publikationen „Nationalsozialisten vor dem Volksgericht Wien“ und „Österreichs Ringen um Gerechtigkeit 1945–1955 in der zeitgenössischen Wahrnehmung“, mit denen er eine wichtige Dokumentation der Berichterstattung über die Volksgerichtsprozesse in den österreichischen Zeitungen vorgelegt hat.
Mit Kästner auf der Pressebank
Als junger Mann hat Butterweck auch den Nürnberger Prozess erlebt und in den 1960er Jahren in mehreren Artikelserien behandelt. Dabei hat er Besonderheiten des Prozesses beschrieben, wie die Bedeutung, die den Richtern zukam, die erst später durch die Veröffentlichung der Beratungsprotokolle durch die Wissenschaft analysiert wurde.
Es gehört eine gehörige Portion Selbstbewusstsein dazu, sich einem Themenkomplex wie dem Nürnberger Prozess zu stellen, der so oft beschrieben und analysiert wurde, dass die Publikationen ganze Bibliotheken füllen. Aktuell lieferbar sind mehr als 500 Werke über diesen Prozess, und antiquarisch sind noch bedeutend mehr Bücher zu erwerben, die wissenschaftlichen Fachartikel und die umfangreichen filmischen Dokumentationen nicht berücksichtigt.
Hellmut Butterweck schildert den Prozess fast so, als wäre er als junger Mann zwischen Erich Kästner und Alfred Döblin auf der Pressebank gesessen. Eine Hauptquelle für ihn sind die Protokolle des Prozesses, die immerhin rund 16.000 Seiten umfassen, parallel wertet er auch einiges an Fachliteratur aus. Es gelingt ihm so eine spannende, lesbare Dokumentation im Sinne eines politischen Essays, dem man den großen volksbildnerischen Impetus der Aufklärung anmerkt. So scheut er sich auch nicht, die Doppelmoral der Siegermächte anzuprangern. Sein Urteil ist klar: Die Sterne des neuen Völkerrechts, die der Hauptankläger Robert Jackson beschwor, blieben auch nach dem Prozess in weiter Ferne. Und die Forderung „nach dem gleichen Maß, mit dem wir die Angeklagten heute messen, [werden] auch wir morgen von der Geschichte gemessen“, war nicht nur in Vietnam längst vergessen.
Die authentische Schilderung des Prozesses ist eine Stärke und gleichzeitig auch eine gewisse Schwäche des Buches. Da die Literatur über den Prozess schier unübersehbar ist, würde sich die Leserin und der Leser die Skizze einer Darstellung der wissenschaftlichen Literatur und des öffentlichen Diskurses wünschen, um auch einordnen zu können, was der andere, neue Ansatz des Autors ist.
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