Verzählung - © Foto: iStock / NiseriN

Österreichische Verzählungen

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Verrechnen und Verzählen sind für die Literatur wunderbar. In der Politik hingegen ist so etwas unerwünscht – und gefährlich.

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Verrechnen und Verzählen sind für die Literatur wunderbar. In der Politik hingegen ist so etwas unerwünscht – und gefährlich.

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In drei Monaten erscheint mein Roman mit dem Titel „0 1 2“. Zahlen schon auf dem Buchcover! Und in der Tat geht es ums Rechnen: Die Hauptfigur des Romans hat in den Achtzigerjahren einen ternären Computer gebaut, also einen Rechner, der nicht auf der kleinsten Einheit des Bit, sondern des Trit funktioniert. Solche Rechner gab es wirklich und es gibt auch Pläne, wieder welche zu bauen. Dann verstirbt mein Held im Jahr 1991, lässt seinen Körper kryokonservieren (also in flüssigem Stickstoff lagern) und kommt im Jahr 2022 durch einen Stunt der Wissenschaft wieder zu Bewusstsein. Auch seine Existenz zerfällt also nicht in 0 und 1 – Tod und Leben –, sondern in 0, 1 und 2 – Tod, erstes Leben, zweites Leben.

Während des Schreibens hat mich das Umrechnen von Dezimalzahlen in Ternärzahlen und umgekehrt beschäftigt. Überhaupt bin ich ein leidenschaftlicher Zähler und Rechner. Immer wieder rechne ich Dinge aus, deren Ergebnis ich schon kenne. Und immer wieder zähle ich die gleichen Dinge, überprüfe nachts im Bett liegend, ob Shakespeares Komödien wirklich 14 an der Zahl sind.

Im Paralleluniversum

Die Angst vor dem Irrtum ist so groß, dass auch wiederholtes Nachzählen kaum Sicherheit zu geben vermag. Aber wie gut rechnen wir selbst? Was Österreich betrifft, sind die meisten Studien bedrückend: Eine Mehrheit der Österreicherinnen und Österreicher können weder im Kopf noch mit den in der Schule vermittelten Methoden subtrahieren und dividieren. Ein App-Entwickler hat mir einmal gesagt, dass es peinlich ist, die Eingabehistorien in Suchmaschinen zu lesen, aber noch viel peinlicher, jene von Taschenrechner-Apps zu lesen.

Am Fehler, am Verrechnen und Verzählen ist natürlich auch etwas Schönes. Plötzlich eröffnet sich ein Paralleluniversum, eine zweite Welt, die neben unserer Welt existiert. Für die Literatur ist das eine wunderbare Sache. In der Politik ist es unerwünscht und in Zeiten, in denen Wahlergebnisse konsequent geleugnet werden (siehe Donald Trump in den USA), ist das gefährlich.

Die Wahlentscheidung des SPÖ-Parteitags vergangene Woche hat ein solches Paralleluniversum eröffnet; eines, in dem Hans-Peter Doskozil die Sozialdemokratie anführt. Ich glaube nicht, dass es sich dabei um einen Zählfehler gehandelt hat und ich glaube auch nicht, dass das Tabellenkalkulationsprogramm Excel (in Österreich konsequent Exl ausgesprochen, wie Schweinshaxl) dabei zum Rechnen verwendet wurde, sondern dort nur Ergebnisse eingetragen wurden. Der Fehler lag in der Methode der Stimmzettelauswertung. Der Fehler lag beim Menschen. In der SPÖ zählt der Mensch. Leider, muss man sagen.

Das ist eine riesige Peinlichkeit. Durch mehrmaliges Eruieren des Ergebnisses durch verschiedene Personen hätte dieser Fehler auffallen müssen. Dass das nicht der Fall war, sondern dem ORF-Journalisten Martin Thür überlassen wurde, ist die zweite riesige Peinlichkeit.

Es gibt also etwas zu reformieren in einer Sparte, in der man bislang niemals Fehler vermutet hätte: bei Vorsitzwahlen eines Parteitags. Da galten bisher Zustimmungen von 69 Prozent (Bruno Kreisky im Jahr 1967) oder 75 Prozent (Pamela-Rendi Wagner im Jahr 2021) zwar als enttäuschend, aber als unzweifelhaft. Besser lief es für Karl Nehammer, der beim Parteitag 2022 hundert Prozent erreichte. Als Kim Jong Un 2014 in Nordkorea dasselbe Ergebnis erzielte, sprachen die österreichischen Medien von „Scheinwahlen“.

Kulturpolitik als Komplize

Das Verzählen (und verzählen bedeutet in einigen Dialekten so viel wie erzählen) gehört in die Welt der Fiktion. Und die Welt der Fiktion soll der Literatur überlassen sein. In der Politik stiftet Fiktion gerade in der heutigen Zeit mehr Unfrieden denn je, während man sie in der Literatur kritisiert. Eine Umkehrung, die der demokratischen Gesellschaft nicht gut

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