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Die ärztliche Verschwiegenheit

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Die Geschichte des „Hippokratischen Eides“ an der medizinischen Fakultät der Universität Wien ist so alt wie die Fakultät selbst. Schon in den sogenannten Älbertinischen Statuten aus dem Jahre 1389 findet sich die Materie der Eidestexte wieder, die 1600, 1610, 1721, 1756 in der tatsächlich abzulegenden Form kodifiziert wurden und heute noch erhalten sind: Reverenz und Gehorsam gegenüber den akademischen Behörden und Kollegen, Befolgung der geltenden und künftig zu erlassenden Statuten, Eintracht und Frieden unter den weltlichen und geistlichen Angehörigen der Nationen und Fakultäten, Verpflichtung zur Abhaltung einer Vorlesung, Verpflichtung, an keiner anderen Universität die Doktorwürde erwerben zu wollen und die Fakultätsgeheimnisse zu bewahren.

Vollständige Texte finden sich ab 1600, und von diesem Jahr an läßt sich eine lückenlose Reihe nachwei- sen: 1610, 1721, 1756, 1785, 1832, 1873, 1918,. 1945. JEs handelt sich dabei um - die sogenannte Hauptlinie’ der; äfä&t- üchen Eide und’Gelöbnisset’Denn es gab Fakultätseide, die während des Studiums zu schwören waren, sowie Eide, die am Ende des medizinischen Studiums, aber auch Berufseide, die vor dem Dekan der medizinischen Fakultät abzulegen waren. Der erstere Typus tritt allmählich zurück; hingegen gibt es eine Reihe von Berufseiden der niedrigen Heilberufe beziehungsweise der beamteten Ärzte usw., welche bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts Gültigkeit hatten, um dann weitgehend in die Formel des Doktor universae medi- cinae aufzugehen oder durch einen vom medizinisch-deontologischen Gehalt freien Amtseid abgelöst zu werden. Die Texte aus dem Jahre 1756, die in einem besonderen Buch gesammelt und bis auf den heutigen Tag überliefert sind, gehen bereits über einen reinen Universitäts- oder Fakultätseid hinaus: Der Kandidat schwört, die jetzigen und künftigen Statuten beständig beobachten zu wollen, dem Dekan schuldige Reverenz und Gehorsam zu leisten, diie übrigen Kollegen nicht auszunehmen und zur Ehre Gottes und dem Wohl der Fakultät tätig sein zu wollen, Geheimnisse der Fakultät zu bewahren, ausgenommen berechtigten Personen gegenüber, und schließlich keine Behandlung zu übernehmen, wenn der vorher tätige Kollege für seine Mühe nicht entlohnt worden sei. Es werden also außer den Pflichten gegenüber der Universität und Fakultät bereits auch Pflichten gegenüber den Kollegen genannt und die Verschwiegenheit besonders betont.

Die Formel aus dem Jahre 1785, die während der Regierungszeit Kaiser Josefs U. vorgeschrieben wurde, bringt nun einen grundsätzlichen Wandel. Die Zeit der Aufklärung hat hier mit dem Dekret Josefs II. eine wesentliche Änderung gebracht: Es ist kein Eid, sondern eine feierliche Angelobung zu leisten. Das „Schwören vor Gott“ wurde durch das „Geloben und Versprechen“ als feierliche Bekräftigung der übernommenen Pflichten gegenüber den Würdenträgern der Universität und der medizinischen Fakultät abgelöst.

Dem Rektor Reverenz

Der Text von 1785 Ist anderseits aber näher der griechischen Formel. Zunächst werden wieder die Pflichten der Schule angeführt:

„Du wirst geloben, dem Rektor Reverenz und Gehorsam zu leisten, die akademischen Gesetze zu halten, dem Dekan der Fakultät und den einzelnen Kollegen diesen Standes in Ehre und Fleiß zu folgen, als Mitglied der Universität die Statuten zu beachten, die Rechte und Privilegien der Universität zu bewahren.“ Dann folgt die Vorschrift für die ärztliche Tätigkeit: „Du wirst geloben, die ärztliche Kunst zum Heil der Kranken ehrlich und eifrig zu pflegen und, so weit wie möglich, zu vermehren; mit Fleiß und Gelassenheit arm und reich zu behandeln und schließlich die Geheimnisse der Kranken zu bewahren, ausgenommen im Fall gerichtlicher Aufforderung.“

In diesem Text der Josefinischen Zeit sind die meisten Leitideen des antiken Textes aufzuflnden; entsprechend der philanthropischen Gesinnung des Zeitalters ist das Verhalten’’zum Patienten wieder stärker im Vordergrund und dadurch die Annäherung an die hohe sittliche Haltung des Hippokratischen Eides gegeben. Der Text selbst scheint keine genuine Schöpfung zu sein, sondern auf eine alte Formel zurückzugehen,

die nunmehr auch im Sinne der echten Traditionspflege als kongenial empfunden wurde. Aus dem vorder- österreichischen Freiburg im Breisgau ist uns ein Text aus dem Jahre 1460 erhalten. Beide Texte sind nur unwesentlich voneinander verschieden; mit Ausnahme, daß der Charakter des Eides in den eines feier lichen Gelöbnisses verwandelt wurde.

1832 und 1873 kommt es zu einer neuerlichen Änderung des Textes, wobei die einzelnen Pflichten etwas summarisch zusammengefaßt werden. Der Text von 1873 ist heute noch in Verwendung, und zwar unter Weglassung der Präambel, die sich auf den Kaiser von Österreich bezogen hat.

Auch die Apotheker

Bisher wurde gewissermaßen die Hauptlinie verfolgt, aber schon 1570 findet sich in den Fäkultätsakten ein Chirurgeneid in vollem Wortlaut; 1756 gibt es einen Eid für Amtsärzte, einen Eid für Doktoren der Chirurgie, für Lazarettchirurgen, für Magistri der Geburtshilfe sowie ein Formular für Ärzte, die Doktoren der Medizin und Chirurgie gleichzeitig sind. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts gibt es eigene Texte für Chirurgen, für Augenärzte, für Zahnärzte und Geburtshelfer, bis 1873 eine einheitliche Formel, analog dem doctor universae medi- cinae, in Verwendung kommt.

Erwähnt muß werden die umfangreiche Gelöbnisformel der medizinisch-chirurgischen Akademie Wien, die zahlreiche Parallelen und Annäherungen mit dem antiken Hippokratischen Text enthält. Ferner gibt es eine ebenfalls in Einzelheiten gehende Eidesformel für die k. k. Feldärzte, die auch im Vergleich mit der Genfer Konvention von 1859 von Interesse ist und viel „Hippokratisches“ tradiert, wie überhaupt in den Schrecknissen des zweiten Weltkrieges mancher „die Rettung seines Lebens dem moralischen Prestige des großen Mannes auf der kleinen Insel in der Ägäis verdankt" (P. Bamm). Auch die Apotheker, die ursprünglich vor dem medizinischen Dekan einen Berufseid abzulegen hatten, haben eine Anzahl Eidestexte überliefert "; ö ¿¡ifl

Der im wesentlichen heute unverändert gebrauchte Text von 1873 faßt die deontalogischen Pflichten summarisch zusammen. Zunächst wieder die Schule: „Sie werden also geloben, erstens dieser Universität, in der sie den höchsten Grad der Medizin erlangt haben, dauernd ein treues Angedenken zu bewahren und ihre Aufgaben und Ziele nach Kräften zu unterstützen.“ Dann folgt das Verbrechen sittlichen Verhaltens: „Sodann die Würde, die ich Ihnen zu verleihen habe, rein und unversehrt zu erhalten und niemals durch üble

Sitten oder Schande im Leben zu beflecken.“ Schließlich zur ärztlichen Tätigkeit: „Sie werden geloben, die Kenntnisse, die Sie jetzt beherrschen, durch eigenen Fleiß zu pflegen und insbesondere alle Fortschritte, welche diese Kunst im Laufe der Zeit machen wird, zu erweitern, Ifire Übungen und Ihr Können zum Wohl und Gedeihen der Menschen geflissentlich zu verwenden, endlich alle Pflichten, die dem rechten Arzt obliegen, mit der gleichen Menschlichkeit gegen alle auszuüben."

Der volle Wortlaut des asklepia- dischen Eides war in Wien nie in Verwendung, auch nicht in einer Form des Mitteialters, wobei die Anrufung der griechischen Götter durch eine christliche Präambel ersetzt worden wäre. So begann zum Beispiel in Basel die Promotionsformel von 1580 unter der Anrufung des einen und dreieinen Gottes.

Ein Vergleich mit anderen Fakultäten bringt ein nicht uninteressantes Ergebnis. Heute ist es an manchen Fakultäten üblich, daß bei Promotionen der altehrwürdige Text verlesen wird, die Doktoranden haben ihr Gelöbnis nach einer neuen eigenen Formel abzulegen. Auf Grund einer Umfrage an alle medizinischen Fakultäten der Welt kamen 184 Antworten. An sechs Fakultäten der Vereinigten Staaten von Nordamerika dürfte der historische Text verwendet werden. 19 Fakultäten haben die Genfer Deklaration vom Jahre 1948 gewählt, die die wichtigsten deontalogischen Pflichten getrennt aufzählt. Eigene Formeln, die sowohl vom Hippokra tischen Eid wie von der Genfer Deklaration abweichen, sind an 95 Fakultäten gebräuchlich, und 64 Fakultäten haben geantwortet, daß es bei ihnen nicht üblich sei, ein ärztliches Gelöbnis am Ende des Studiums beziehungsweise am Beginn der beruflichen Tätigkeit abzu- legen.

Die Nachfolgestaaten

Am Schluß noch einige Bemerkungen zur Verbreitung und zum Nachwirken der Wiener Formel. Die Texte der medizinischen Fakultäten in Graz und Innsbruck bleiben nach 1918 gleich dem Wiener Formular. Wenden wir uns nun dem Prager Text von heute zu, so finden sich folgende Parallelen und Unterschiede: Zunächst wird auf den Staat Bezug genommen, was in den Wiener Texten von 1918 und 1945 nicht der Fall ist, da die Präambel für den Kaiser (1873) wohl weggelassen, aber nicht durch einen entsprechenden Satz für die Republik ergänzt worden war. Dann folgen die Pflichten gegenüber den Kranken und in einem eigenen Abschnitt formuliert die Schweigepflicht, die expressis verbis in den Wiener Texten nur 1785 geboten war. Schließlich hat der doctorandus die Pflicht und Bereitschaft zur wissenschaftlichen Fortbildung und zur Treue gegenüber der Universität zu geloben. Es werden also die wesentlichen Bestandteile des antiken Textes (Verpflichtungen gegenüber der Schule und den Kranken) einbeschlossen; die Nähe zu den Wiener Gelöbnissen von 1785 und 1873 ist nicht zu übersehen.

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