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Dibelius an Grotewohl

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Das zähe Ringen in Genf um Berlin, um die Frage: zwei deutsche Staaten (die These und Forderung des Ostblockes) oder: Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit und demokratischer Ordnung (die Forderung der westlichen Alliierten), überschattet durch seine massiven machtpolitischen und weltpolitischen Bezüge im Bewußtsein unserer Zeitgenossen sehr oft ein wesentliches Element; hier geht es nicht nur um ein Kräftemessen der Weltmächte. Hier geht es nicht „nur” um Deutschland: um ein westliches, ein östliches Deutschland, um ein drittes Deutschland von morgen und übermorgen.

Hier geht es vor allem auch um eine schwere Prüfung, der Millionen Christen täglich unterworfen werden: in der „Deutschen Demokratischen Republik” versucht man. mit alten neueren und teilweise sehr „modernen” Formen der Kirche, dem Christentum und vor allem der jungen christlichen Generation die Zukunft äb- zuschneiden.

Ein Prozeß der Ghettoisierung, der Abschnürung, der inneren Aushungerung ist hier im Gange, anders bisweilen als unter Stalin in den ersten Jahrzehnten der bolschewistischen Revolution, anders bisweilen als unter Hitler, nicht weniger bedrohlich und gefährlich jedoch. Jede direkte Stellungnahme der betroffenen Kirche, der Christenheit in dieser Zone verdient eben deshalb bereits wache Zurkenntnisnahme gerade auch bei uns, die wir nicht selten vergessen, daß, wenige Kilometer von den Festen und Feiern der Wienerstadt entfernt, Zustände herrschen, die den innerdeutschen Verhältnissen in Ostmitteldeutschland verwandt sind. Geschichtlich begründet ist, daß, dort in besonderer Weise der Protestantismus betroffen ist; er weiß seine Stammlande und. die Mehrzahl seiner Gläubigen in der Obhut eines Regimes, das sich erst kürzlich wieder in einer Rede Grotewohls zur Staatsreligion des „dialektischen Materialismus” bekannt hat. Dazu nimmt in einem Offenen Brief der führende Kirchenmann des deutschen Protestantismus, Bischof Dibelius, Stellung. Dieser Brief ist ein kirchengeschichtliches Dokument.

„Sehr geehrter Herr Ministerpräsident! Sie wollen mir gestatten, mich mit diesem Offenen Brief an Sie zu wenden. Da die Regierung der DDR- es ablehnt, mit kirchlichen Stellen zu verhandeln, die ihren Wohnsitz in Westberlin habent bleibt mir kein anderer Weg, so ungern ich ihn auch gehe.” Dibelius bezieht sich auf das eben neu wiederholte Bekenntnis des ostdeutschen Regierungschefs zum „dialektischen Materialismus” und stellt dazu fest: „Wenn nun aber von diesem Prinzip her eine Weltanschauung entwickelt wird, die das gesamte Leben der Menschen in Theorie und Praxis bestimmen soll, dann sieht sich die christliche Kirche allerdings gefordert. Denn darüber herrscht allgemeines Einverständnis, daß die Weltanschauung des dialektischen Materialismus weder für pott noch für das Evangelium von Jesus Christus Raum hat. Sie selbst, Herr Ministerpräsident, vermeiden zwar in Ihrer Rede das Wort .atheistisch”. Daß aber eine atheistische Weltanschauung und nichts anderes gemeint ist, ergibt sich aus dem ganzen Zusammenhang der Rede und wird an einzelnen Stellen klar angedeutet. Dadurch wird Ihre Rede zu einer Proklamation atheistischer Denkwefte von Staats wegen. Der Staat setzt sich damit, in Widerspruch zu seiner christlich gesinnten Bevölkerung. Bitte, täuschen Sie sich nicht darüber. Ein atheistischer Staat kann für den Christen niemals zu einer inneren Heimat werden.”

Dibelius erläutert dann an Beispielen den Gegensatz zwischen der vom DDR-Regime verkündeten „sozialistischen Moral” und dem sittlichen Gebot Christi. „Wenn also… die nationalen Streitkräfte der DDR von ihren Kommandostellen aufgerufen werden, die andersdenkende Welt zu hassen, so kann die Christenheit Deutschlands dazu nur ihr bestimmtes und unaufgebbares Nein sprechen.”

In Schule und Unterricht sucht dieser Staat mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln seine „Moral” durchzusetzen. Dibelius erinnert an den Zwang zur Jugendweihe und fährt dann fort:

„Nein, Herr Ministerpräsident, es ist genau umgekehrt, wie Sie es darstellen. Nicht die Kirche versucht, eine Monopolstellung für sich zu fordern, sondern es ist der Staat, der Einrichtungen, die aus dem Gegensatz gegen die christliche Sitte hervorgegangen sind, unter Einsatz seiner Machtmittel Geltung zu schaffen sucht.”

Dieser Offene Brief schließt nach ausführlicher Erörterung der Gegensätze mit der Feststellung: „Das Gefühl, daß die treuen Glieder der christlichen Kirche in der DDR als Bürger zweiter Klasse gelten, gräbt sich immer tiefer ein. Wollen Sie diese Entwicklung wirklich weitergehen lassen? Ich bin mit angelegentlicher Empfehlung Ihr ganz ergebener gez. Dibelius. “

Das offene Wort des protestantischen Bischofs von Berlin vertritt mit auch die Sorgen der Katholiken. In seltener Klarheit zeigt es die Bereitschaft der Kirche zu Zusammenarbeit, in den Grenzen des Möglichen, und zu Widerstand,. dort, wo Gottes Gebot offen verletzt und verhöhnt wird, auf.

Wer immer sich mit den Beziehungen Kirche—Staat, und christliche Existenz in einer außer- und gegenchristlichen Welt befaßt, existenziell und theoretisch, muß’ dieses bedeutende Dokument zur Kenntnis nehmen.

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