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Die Angestellten sind interessant geworden

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AUF DEM VIERTEN KONGRESS DES ÖSTERREICHISCHEN GEWERKSCHAFTSBUNDES sprach der bekannte Gelehrte Professor Dr. Sternberg (USA) über die zweite industrielle Revolution. Seine Ausführungen machten auf die Delegierten einen tiefen Eindruck! Vor ihrem geistigen Auge entstand die Vision einer gewaltigen gesellschaftlichen Umwälzung, die die Beziehungen zwischen den Menschen gründlich verändert.

Einen breiten Raum nahmen in Professor Doktor Sternbergs Vortrag die Verschiebungen ein, die innerhalb und zwischen den einzelnen Berufsgruppen vor sich gehen. In allen modernen Industrieländern, so führte der Vortragende aus. wächst die Zahl der Angestellten. Gleichzeitig nimmt deren gesellschaftliche Bedeutung im Produktionsprozeß ständig zu. Professor Dr. Sternberg belegte diese Feststellungen mit ungemein interessanten Zahlen aus den Vereinigten Staaten. Und er beeilte sich, hinzuzufügen: „Amerikas Gegenwart ist unsere Zukunft.“

NACH DEM GROSSEN ERLEBNIS DIESES VORTRAGES wirkte ein Scherzwort auflockernd. Das galt auch für eine dem Vorsitzenden der Gewerkschaft der Privatangestellten, Nationalrat H i 11 e g e i s t, gestellte Frage: „Wurde Sternbergs Referat von der Angestelltengewerkschaft bestellt?" Der Vertreter einer anderen Gewerkschaft, der diese Frage lächelnd stellte, wußte natürlich die Antwort: Der Inhalt war von niemandem „bestellt“ worden.

Aber was Professor Dr. Sternberg über die Bedeu tung der Angestellten sagte, war für viele eine neue, aufregende Erkenntnis.

„Die Angestellten“, so meinte ein klug beobachtender Journalist auf dem Kongreß, „sind interessant geworden."

WIE SIEHT DIE ZUKUNFT DIESER interessant gewordenen Angestellten aus? Bietet ihr zahlenmäßiges Wachstum die Gewähr dafür, daß auch ihre verantwortliche Tätigkeit in der Wirtschaft anerkannt und angemessen honoriert wird? Professor Dr. Sternberg und andere amerikanische Soziologen haben nachgewiesen, daß eher das Gegenteil der Fall ist. In den USA sind die Angestellten — wenn wir von der dünnen Schichte der Manager absehen — wesentlich schlechter bezahlt als die meisten Arbeitergruppen.

Dieses Zurückbleiben der Angestelltengehälter hat absolut nichts mit der Leistung zu tun, sondern ist darauf zurückzuführen, daß die Arbeiter über eine viel bessere gewerkschaftliche Organisation verfügen. Ohne Gewerkschaft gibt es eben auch für die Angestellten keinen sozialen Fortschritt.

MEHR ALS 200.000 ÖSTERREICHISCHE ANGESTELLTE haben diese einfache Wahrheit erkannt und sind Mitglieder ihrer Fachgewerkschaft. Diese Angestellten gehören den verschiedensten politischen und weltanschaulichen Richtungen an. Was sie eint, ist das gemeinsame Interesse an der wirksamen Vertretung ihrer berechtigten Forderungen.

Und die Tatsachen geben ihnen recht: Es ist der Gewerkschaft gelungen, für fast alle Angestellten einen Urlaubszuschuß in der Höhe eines vollen Monatsgehaltes durchzusetzen, ln der kurzen Zeitspanne, über die auf dem letzten Zentralvorstand der Gewerkschaft berichtet wurde — 1. April bis 31. Oktober 1959 — konnten 56 Kollektivverträge abgeschlossen werden, die den verschiedenen Angestelltengruppen materielle und sozialrechtliche Verbesserungen bringen. Wie aber wird ihr künftiges Schicksal aussehen?

DIE ZWEITE INDUSTRIELLE REVOLUTION unterscheidet sich von der ersten und von der Rationalisierungsperiode zwischen den beiden Weltkriegen vor allem durch ein Moment: Diesmal erfaßt die technische Umwälzung nicht nur die Produktionsstätten, sondern auch die Büros. Die noch in den Anfängen steckende Automation führt zu einer radikalen Veränderung der Angestelltentätigkeit: Aufgaben, die bisher von Büroangestellten gelöst wurden, erledigen nunmehr Elektronengehirne in einem wesentlich kürzeren Zeitraum.

Das bedeutet: Auf einer bestimmten Entwicklungsstufe der Automation werden verschiedene Angestelltenberufe überflüssig, während gleichzeitig ein Bedarf nach beruflichen Qualifikationen vorliegt, über die die freigesetzten Arbeitskräfte nicht verfügen. Es wird nicht leicht sein, diese schwierigen Fragen bei Vermeidung einer technologischen Arbeitslosigkeit, die vor allem die Angestellten treffen würde, zu lösen.

Auf jeden Fall steht der Einzelne diesen Ereignissen hilflos gegenüber. Deshalb ist der gewerkschaftliche Zusammenschluß der Angestellten angesichts der zweiten industriellen Revolution zu einer sozialen Notwendigkeit geworden. Jeder abseitsstehende Angestellte schädigt sich selbst und seine ganze Berufsgruppe.

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