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Die Europaakademie in Brügge

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In Brügge ist die Errichtung einer intereuropäischen Hochschule für Recht, Wirtschaft, Geschichte und Philologie geplant. Die vorbereitenden Besprechungen für dieses Projekt wurden von Mitte September bis Mitte Oktober in dieser altehrwürdigen flandrischen Stadt abgenaiten, deren Gastfreundschaft 25 Delegierte aus allen Himmelsrichtungen in ihren Mauern vereinte. Auf Vorschlag des Direktors des Instituts für Geschichtsforschung an der Wiener Universität, Universitätsprofessor Dr. Leo Santifaller, wurde ich vom Bundesministerium für Unterricht beauftragt, Österreich auf dieser Konferenz zu vertreten. Es ist ein Gutteil gemeinsamer österreichisch - niederländischer Geschichte, das man erleben kann, wenn man mit offenen Augen durch die alten Kathedralen, Museen, Ratssäle und Patrizierhäuser Flanderns geht. Oft, fast möchte man sagen: auf Schritt und Tritt, grüßen einen in geistlichen wie in weltlichen Gebäuden Bindenschild und Doppeladler, Standbilder und Gemälde der habsburgischen Herrscher von Maximilian I. bis zu Maria Theresia und ihren Söhnen. Das Gefühl der Fremde, da sich so oft im Ausland einstellt, konnte gerade in jener Landschaft nicht aufkommen. Dies um so weniger, wenn man von dem Sekretär des vorbereitenden lokalen Hochschulkomitees coram publico in deutscher Sprache mit den Worten empfangen wird, man sage in Flandern, wenn man jemanden besonders herzlich aufnehmen wolle, noch immer das alte Sprichwort „Willkommen wie im Hause Österreich!“. Daraus sei zu erkennen, wie man die Herrschaft Österreichs eingeschätzt habe, dessen Joch sanft und dessen Last leicht gewesen sei — im Gegensatz zu anderen. — Aber nicht nur die Flamen Überboten sich an Herzlichkeit dem Österreicher und den drei Deutschen gegenüber, auch unter den übrigen Delegierten herrschte gegenseitig das allerbeste Einvernehmen. Wenn Deutsche und Polen sich zu dauernder Sitznachbarschaft zusammenfanden und wenn beim gemeinsamen Besudi eines der vielen flandrischen Kriegsfriedhöfe ein junger französischer Historiker den besinnlich abseitsgehenden Deutschen mit betonter Freundlichkeit an seinen Arm nahm, dann muß man darin wohl mehr als bloße Gesten erkennen. Man fühlte von Anfang an, daß es sich um den seltenen Fall einer Konferenz gleichgestimmter, von ähnlichen Absichten beseelter Menschen handelte, die erfahrungsgemäß eine Internationale besonderer Art bilden: eine Internationale der Friedfertigkeit, des guten Willens und des Strebens nach Objektivität. Es war für die Teilnehmer eine freudige Genugtuung, zum Abschluß von allen Seiten einmütig das Bekenntnis zu hören, es sei leichter, sich mit einem charakterlich gleichgestimmten Angehörigen eines anderen Volkstums Zu verständigen als mit den seelisch ungehobelten, draufgängerischen Charakteren des eigenen. Das alte

Wort, man empfinde gegenüber den gleichgesinnten und bildungsbeflissenen Menschen anderer Völker oft mehr Gemeinsamkeit als gegenüber bildungsfeindlichen der eigenen Nähe, fand demnach auch in diesem Fall seine Bestätigung, Es zeigt, daß die vertikalen Linien, die die Menschheit in Staaten und Völker zerteilen, durch horizontale, den inneren Reifegrad anzeigende Schichtenlinien wirksam überbrückt werden können; wobei diese Schichtung natürlich nicht eine soziale oder politische, sondern eine solche des inneren Wertes, der Gesinnung und des Charakters ist tthd wobei „Bildung“ keineswegs mit Hochsdiuibildüng identisch zu sein' braucht.

Aber um der Wahrheit willen muß auch vom weniger ..Erfreulichen die Rede sein. Wenn die seelische Disposition, der charakterliche Reifegrad und das Streben nach Objektivität allgemein vorhanden waren und volle Anerkennung verdienen, so ist damit noch nicht gesagt, daß diese angestrebte Objektivität auch tatsächlich immer und überall erzielt werden konnte. Bekanntlich haben viele Angehörigen .der „westlichen Zivilisation“ — der Begriff kann sehr weit genommen werden und braucht nicht mit dem geographischen Westen Zusammenfällen —, sei es durch Erziehung, sei es durch sonstige Traditionen, die Neigung, so von sich eingenommen zu sein, daß sie sich vielfach für eine bessere Ausgabe des Europäertums halten. Häufig sind sie über mittel- und osteuropäische Verhältnisse nur sehr unzureichend unterrichtet; dabei mögen sie auf vielen anderen Wissensgebieten sehr bewandert und an seelischer Kultur sehr reich sein. Aber Geschichte und Kultur der europäischen Mitte spielen in ihrem Bewußtsein — mit Ausnahme etwa der Musik und der Naturwissenschaften — seit jeher eine untergeordnete Rolle. Dies ist nicht eine Folge der beiden Weltkriege. Die Literatur der meisten Fachgebiete zeigt, daß es auch vorher nicht anders war. Man kann auch nicht sagen, daß mangelndes Streben nach Objektivität daran schuld wäre: es ist in diesen Nationen gewiß nicht schwächer und nicht stärker entwickelt als in Mitteleuropa, und Aufklärungen, auf rechte Weise dargebracht, werden gern und wohlwollend aufgenommen. Es ist also weder böser Wille noch Unbelehrbarkeit, sondern es ist mangelndes Wissen um die geogrpahischen, ethnographischen und historischen Verhältnisse Mitteleuropas, mangelndes Unterrichtetsein über die so unendlich diffizilen und vielfältigen, ja verworrenen, einander überkreuzenden und miteinander verwachsenen Beziehungen und Traditionen, mit denen die europäische Mitte zu ihrem Glück und zu ihrem Unglück vom Anbeginn ihrer Geschichte an belastet ist, und endlich ist es auch mangelnde Erfahrung in Not, Sorge und Leid, die wesentliche Bestandteile dieser Traditionen sind. Da es sich also weniger um eine Frage des Charakters, sondern mehr um eine Frage der Information handelt, wenn man bedauernd von manchen derartigen Erfahrungen sprechen muß, ist auch zugleich der Ansatzpunkt für eine Besserung des Zustandes gegeben.

Während der langen und gründlichen Verhandlungen und Diskussionen über die Struktur, die Richtlinien und Lehrpläne .der in Brügge geplanten Europaakademie habe ich mir. immer wieder große Mühe gegeben, aufklärend zu wirken, Zerrbilder, soweit sie unberechtigt sind, an Hand historischer Tatsachen zu korrigieren, Negatives nicht zu bestreiten, sondern selbst zu verurteilen, aber verbunden mit dem gerade Westeuropäern gegenüber notwendigen Hinweis, daß sich viel Negatives auch in ihren Chroniken findet und daß menschliche Schwächen, Fehler und Verbrechen bei einzelnen wie bei Nationen ebenso international zu Hause sind wie Tugenden, Friedfertigkeit und Großtaten menschlichen Geistes. Der Erfolg, den diese leider nur unvollkommenen Bemühungen hatten, zeigte, daß man mit noch besseren Erfolgen rechnen kann, wenn man die Gelegenheit ergreift, vor einem intereuropäischen Forum, wahrscheinlich schon in zwei Jahren, auch österreichische Gastprofessoren und Studenten dozieren und studieren zu lassen.

Die einjährige Ausbildung, die dort von einem intereuropäischen Lehrkörper frisch- proimovierten Studenten aus allen Ländern auf dem Gebiet gesamteuropäischen völkerrechtlichen, ökonomischen, historischen und humanistischen Wissens geboten werden wird, soll keine akademischen Grade verleihen; sie wird auch zu kurz sein, um wissenschaftliche Forschung zu treiben, aber sie wird lange genug sein, um junge Akademiker im entscheidenden Alter geistig zu-

sammenzuführen, um Professoren während eines mehrmonatigen Urlaubes von ihren Heimathochschulen Gelegenheit zu persönlichem Gedankenaustausch mit ausländischen Fachkollegen zu geben, um durch wissenschaftliche Voträge aufklärend zu wirken, Mißverständnisse zu beseitigen, Verbindendes hervorzukehren und den Gemeinschaftssinn zu fördern. Wenn in naher Zukunft diese alljährlich wechselnden Versammlungen von Akademikern aus ganz Europa beginnen und wenn sie ausschließlich unter dem Zeichen der Objektivität stehen werden, dann ist Hoffnung, daß wenigstens Teile der jetzt noch entzweiten Völker — und später diese in ihrer Gesamtheit — sich allmählich finden mögen im Dienste an der einen einzigen großen Wahrheit, der alle hundert Wissenschaften nachspüren und die unwandelbar ist und unteilbar

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