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Die Geburtswehen dauern fort

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Die Bemühungen um eine wirtschaftliche Integration des freien Europa, deren Erfolg selbstverständlich von einem freundschaftlichen Verständnis zwischen allen beteiligten 'Staaten abhängig bleibt, leiden in jüngster Zeit unter zahlreichen Widersprüchen zwischen der Theorie und dem praktischen Verhalten. Da die Phraseologie selten mit den wirklichen Tatbeständen übereinstimmt, bewegt man sich vielfach im Kreise zwischen den Kulissen der Fiktionen und Illusionen. Infolge der allgemeinen außenpolitischen Stagnation, die dem augenblicklichen Stand der Beziehungen zwischen dem Westen und dem Osten entspricht, wird die auswärtige Taktik auch weitgehend von innerpolitischen Rücksichten und Erwägungen beeinflußt, die wiederum von der wirtschaftlichen Situation abhängen.

Während das Spiel zwischen den Westmächten schon begonnen hat, ist Österreich als kleiner Staat natürlich zur Defensive gezwungen, um zwischen den verschiedenen fremdländischen Strömungen einen Kurs zu steuern, der das Land vor Schäden und Konflikten bewahrt. Trotzdem brachten die vergangenen Wochen in der Integrationsfrage vier Überraschungen:

• die Annäherung zwischen Rom, Bonn und Paris,

• ein nahezu vollkommenes Gleichgewicht im Warenverkehr Österreichs mit den anderen Staaten der Freihandelszone,

• eine ernste Opposition der Dominien gegen den projektierten Beitritt Großbritanniens zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft,

• den Antrag Großbritanniens um Aufnahme in die EWG unter ge-

■ wissen Bedingungen und die Billigung des Parlaments.

Die ersten neuen Tatsachen, die in jüngster Zeit auftauchten, waren die offenherzigen Geständnisse in Rom, Bonn und Paris, die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft sei eine politische Organisation, die ausgebaut werden müsse. Diese Bekenntnisse standen im

Einklang mit den Ursprüngen des Vertrages von Rom, dessen Entstehung in eine Periode fiel, die den Aufgabenkreis der NATO irgendwie auf wirtschaftliche Belange erweitern wollte. Außerdem benötigt Westeuropa tatsächlich eine neue außenpolitische Ideologie. Die Bundesrepublik trägt die schwere Hypothek einer Zweiteilung Deutschlands; Belgien, Frankreich und Italien erlitten nach dem zweiten Weltkrieg empfindliche territoriale Verluste, aber nur Holland vermochte den Abfall Indonesiens psychologisch einigermaßen zu überwinden. Der nationale Gedanke, der Europa hundert Jahre beherrscht hat, befindet sich — natürlich unterbrochen von lokalen Explosionen — zweifellos im Niedergang, und der politische Stil steht während der nächsten Jahrzehnte sichtbar im Zeichen höherer Gemein schaften. Trotzdem müssen die neuen internationalen Organisationen erst ihre Kinderkrankheiten ablegen, damit sie sich zur vollen Aktivität entfalten. Dieser allgemeinen Entwicklung kann sich kein Staat entziehen. Außerdem bietet der europäische Gedanke suggestive Wahlparolen und erleichtert die Verteidigung gegen den Kommunismus. Es war aber nicht ungefährlich, die Grundsätze des freien Europa in einem territorial beschränkten Bereich einfach bürokratisch und zentralistisch auf den Außenhandel anzuwenden. Auf diese Weise sind nur neue Reibungsflächen entstanden. Europa hätte mit dem Instrument einer elastischen Großen Freihandelszone gewiß raschere Fortschritte erzielt als mit Hilfe des starren Vertrages von Rom, der die wirtschaftliche Integration eher erschwert.

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