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Die Neutronenbombe

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Das apokalyptische Risiko der Wasserstoffbombe hat ein Gutes. Es bremst die unausrottbare martialische Leidenschaft der Menschen, wobei allerdings die Anzeichen für die Abnutzung der Bremse sich mehren. Wer möchte aber bezweifeln, daß der dritte Weltkrieg schon längst ausgebrochen wäre, wenn das Risiko geringer wäre?

Die Friedlosigkeit ist dem Menschen nicht nur angeboren, sondern auch durch die Notwendigkeit mannigfachen Wettbewerbs anerzogen. Die Schuld am Krieg liegt beim Durchschnittsmenschen, auch wenn dieser demagogische Politiker oder ehrgeizige Militärs zu Sündenböcken macht. Man ist noch kein Pazifist, weil man nach Abschaffung der Waffen schreit. Man wird erst dann zum Pazifisten, wenn man die andere Backe hinhält.

Die Menschen grollen den Wissenschaftlern, nicht, -reil sie die Waffen, die jene erfunden haben, zu scheußlich oder zu unmoralisch finden, sondern weil der Preis für die Befriedigung ihrer Leidenschaft zu hoch geschraubt wurde. Dies aber ließ die Wissenschaftler, die darnach streben, den Menschen glücklich zu machen, nicht ruhen. Sie bemühten sich, eine Bombe zu schaffen, die einerseits den Bevölkerungsüberschuß drastisch abbaut, anderseits aber die Grundlagen unserer Zivilisation, die, nachdem der Mensch immer mehr hinter den Dingen zurücktritt, zunehmend auf den letzteren beruht, intakt läßt.

Jetzt scheint man der Lösung dieser Aufgabe nahe zu sein. Es wurde eine

Bombe entwickelt, die den Krieg wieder „praktisch“ macht. Es handelt sich nicht um eine radikal neue Bombe, wie seinerzeit die H-Bombe, sondern um eine Variante dieser. Schon streitet man sich in Washington — wie vor zwölf Jahren über die Wasserstoffbombe — um die Frage, ob man die neu erfundene Bombe auch wirklich herstellen soll.

„Sauberkeit" wird einer auf Hygiene bedachten Menschheit als ihr großer Vorzug empfohlen. Sie führt keine atomische Verschmutzung herbei. Im Prinzip ist sie eine kleinere Wasserstoffbombe, aber ungleich dieser wird sie nicht durch eine Atombombe entzündet, sondern durch einen Schmelzungsprozeß, der einen Neutronenausbruch herbeiführt. „Dieser Neutronenausbruch würde sich wie ein Todesstrahl betätigen“, erklärte Senator Thomas Dodd, einer der eifrigsten Befürworter aller Arten von besseren Bomben wie auch der Atomversuche. „Er würde keine Verschmutzung herbeiführen, aber sofort alles Leben im Zielgebiet zerstören.“

Wie man weiß, untersucht gegenwärtig ein wissenschaftliches Gremium, dessen Vorsitzender als Fünfzehnjähriger vor den Nazis in die Vereinigten Staaten geflohen ist, wieweit die russischen Versuche die Atmosphäre tangieren. So werden demnächst möglicherweise die Versuche wieder aufgenommen, wenn auch unterirdisch, um die Atmosphäre nicht wieder zu verschmutzen Damit ist dann die Möglichkeit gegeben, die Neutronenbombe zu produzieren. Nur eine

Schwierigkeit steht vorläufig noch dawider, nämlich das Problem, wie man die unvorstellbare Hitze, die zur Entzündung nötig ist, erzielen kann.

In einem Interview mit der Zeitschrift „United States News" erläuterte Senator Dodd die großen Erwartungen, die er auf die Bombe setzt. Er machte darauf aufmerksam, daß die jetzigen Bomben „politisch und moralisch belastet“ sind, ganz davon abgesehen, daß die „Verschmutzung“, sprich: Verseuchung, eine sofortige Besetzung feindlichen Gebietes unmöglich macht. Die Furcht der europäischen Alliierten, daß eine Verteidigung mit taktischen Kernwaffen ihre Städte und Dörfer mit radioaktivem Ausfall verschmutzen wie auch ihre Milch und Bodenfrüchte verseuchen würde, sei verständlich, gesteht der Senator. Auch fürchteten sie, daß die Benutzung taktischer Atomwaffen auf dem Schlachtfeld schließlich in einen unbegrenzten Wasserstoffbombenkrieg ausarten würde. „Waffen aber, die wir und unsere Verbündeten zu benützen zögern, stellen nicht das ideale Abschreckungsmittel gegenüber dem Kreml in seiner gegenwärtigen übermütigen Stimmung dar", daher, meinte der Senator, könne der Kreml weder leicht davon überzeugt werden, daß die Vereinigten Staaten wegen Berlin einen Wasserstoffkrieg führen, noch daß sie kleinere taktische Atomwaffen auf dem Gebiet der Verbündeten ein- setzen würden. „Aber wenn wir eine Neutronenbombe hätten, wäre dies eine vollkommen glaubwürdige Waffe,

und dieses Element der Glaubwürdigkeit würde enorm dazu beitragen, den Frieden zu bewahren!“

Daß die Glaubwürdigkeit des Friedens von der Glaubwürdigkeit der Waffen abhängt, ist eine Erkenntnis, die zumindest so alt ist wie die Maxime „Si vis pacem, para bellum“. Nur ist die Gleichung noch nie aufgegangen.

Schließlich bediente sich der Senator eines weiteren, nicht mehr ganz neuen Arguments: „Es ist nicht übertrieben, zu behaupten, daß, falls die Sowjets zuerst diese Waffe in die Hand bekommen, dies uns sehr wohl unsere Freiheit kosten mag.“ Er meinte damit, daß, wenn die Sowjets diese Waffe zur Verfügung hätten und die Wasserstoffbombe nicht gebrauchten, es den Vereinigten Staaten sehr schwer fiele, sich für den Einsatz der letzteren zu entscheiden.

Aus Chruschtschows Ankündigung im Jänner I960, „unvorstellbare Waf fen" würden von sowjetischen Wissenschaftlern entworfen, schließen die Befürworter der Neutronenbombe, daß die Sowjets an ihr arbeiten. Dagegen machen die Gegner der Bombe geltend, daß ein beschränkter Kernwaffenkrieg ein Unding sei, denn beide Seiten würden mit immer stärkeren Waffen Zurückschlagen, bis der Höhepunkt eines atomischen Krieges erreicht sei.

Senator Dodd hört’s lächelnd und bleibt bei seiner gefährlichen Meinung.

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