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Vor uns die Sintflut!

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Am 16. März 1953 fand bei Yucca Fiat in der Wüste von Nevada die Explosion einer kleinen Atombombe statt. Es handelte sich dabei um die Erprobung einer Type für taktische Zwecke, also um — wie die Amerikaner sie nannten — eine „Baby“-Atom-bombe, gar nicht zu vergleichen mit den konventionellen Atombomben für strategische Zwecke, also für Großstädte als Ziel. Deren vernichtende Wirkung war von Hiroshima und Nagasaki her bekannt.

Immerhin erwies auch das „Baby“ verschiedene Tatsachen, über die man sich vorher nicht klar gewesen war. Um diese herauszufinden, hatte man in verschiedenen Abständen vom Detonationspunkt zwei Häuser errichtet und einige hundert Automobile aufgestellt. Die beiden Häuser entsprachen bis zur kleinsten Einzelheit in Konstruktion und Einrichtung den üblichen amerikanischen Einfamilienhäusern und sie repräsentierten gemeinsam mit den Automobilen verschiedener Modelle einen kleinen Ausschnitt aus einer typischen amerikanischen locker besiedelten Gemeinde, die einem Atombombenangriff ausgesetzt wäre.

Das Ergebnis war so klar, wie man es nur gewünscht — oder befürchtet — haben mochte. Das eine Haus, im Abstand von 1200 Meter vom Detonationspunkt, wurde vernichtet. Das andere, das 2300 Meter entfernt war, wurde über dem Erdboden zertrümmert, doch blieb der Unterstand im Keller unbeschädigt. Der Zustand der Automobile variierte vom geschmolzenen Eisenschrott bis zur Intaktheit.

Den Truppen, die in drei Kilometer Entfernung in den Gräben lagen, geschah nichts zuleide, aber im zerstörten Gebiet hätte wohl kein Mensch die Explosion und den Hitzestoß überstanden. Der wechselnde Wind, der nach der Explosion Wolken voll radioaktiven Staubes über die Wüstenlandschaft wehte, würde schließlich jeden etwa Ueberlebenden ausgerottet haben.

Es handelte sich bei jener Explosion — wie gesagt — um eine „Baby“-Atombombe, aber sie erregte infolge der realistischen Umstände, unter denen sie zur Explosion gebracht wurde, weit mehr Aufmerksamkeit als die Wasserstoffbombe, die wenige Monate zuvor, im November 1952, ein Atoll bei Eniwetok im Pazifik verschwinden ließ.

In ihrer Neujahrsübersicht über das vergangene Jahr erklärte die in einigen Millionen Exemplaren verbreitete Wochenzeitschrift „TIME“ mit ziemlicher Selbstzufriedenheit, daß das Volk der USA nur „ein gelangweiltes Ohr für den lautesten Krach der Wissenschaft — die Explosion der Wasserstoffbombe — übrig hatte“.

Freilich hatte „TIME“ ebenso wie fast die gesamte amerikanische Presse dazu beigetragen, die Oeffentlichkeit über die Gefährlichkeit der Wasserstoffbombe zu täuschen. Dies begann mit der konsequenten Verniedlichung durch den unschuldig und harmlos

klingenden Ausdruck „H-Bombe“, der dann von unserer Presse übernommen wurde.

Das „H“ ist die chemische Abkürzung für Wasserstoff (Hydrogenium) und nicht etwa für Horror oder für Hölle. Was stellt man sich schon unter Wasserstoff vor?! Bei uns denkt man an das Bleichmittel Wasserstoffsuperoxyd, in den USA heißt dieses gar allgemein „peroxyde“, und „H“ ist ebenso nichtssagend. Aber sowohl das amerikanische Volk wie auch die Redakteure von „TIME“ würden weniger gelangweilt gewesen sein, wenn die zuständigen Behörden nicht — wie die bekannten amerikanischen Kommentatoren Joseph und Stewart Alsop herausschrieen — die Bedeutung der 'erfolgreichen Erprobung der ersten amerikanischen Wasserstoffbombe „bewußt unterdrückt und verborgen hätten“.

Weniger als drei Jahre nach dem offiziellen Beginn der Produktion der Wasserstoffbombe (Jänner 1950) hatte diese also ihre Kraft erwiesen. Aus verschiedenen Kommentaren ist zu ersehen, daß sie alle Erwartungen der Fachleute weit übertraf. Man hatte beabsichtigt, eine Einmegatonnenbombe, also eine Bombe mit einer Explosivkraft von einer Million Tonnen Dynamit, zu schaffen.

Die bei Eniwetok erprobte, noch primitive Wasserstoffbombe ergab jedoch die gänzlich unerwartete und noch nie dagewesene Explosivkraft von drei bis fünf Megatonnen, also

von drei bis fünf Millionen Tonnen Dynamit. Wenn man vergleichsweise sagt, diese erste Wasserstoffbombe entspreche in ihrer Kraft 150 bis 250 Bomben vom Hiroshima-Typ, so ist das nur eine zahlenmäßige Gleichung auf dem Papier. Man kann sich ihre Wirkung nicht so ohne weiteres vorstellen.

Aber man konnte sie berechnen. Der Einfachheit halber sei angenommen, daß diese Wasserstoffbombe eine Kraft von vier Megatonnen besaß. Jede derartige Bombe würde in einem bewohnten Gebiet folgende Wirkungen erzielen:

Sie würde Gammastrahlen aussenden, die alle ungeschützten Lebewesen auf einem Gebiet von 25 Quadratkilometern töten würden. Das wäre jedoch insofern unwesentlich, als alle Lebewesen in so nahem Umkreis vom Detonationspunkt von der Explosion oder vom Hitzestoß bereits hingerafft worden wären.

Darüber hinaus würde diese Bombe ein Gebiet von 350 Quadratkilometern total demolieren, also weit mehr als etwa die 21 alten Wiener Bezirke, während weitere 650 Quadratkilometer zunächst nur mehr oder minder stark beschädigt werden würden. Der ausgesandte Feuerstoß würde dann den größten Teil dieses Gebietes niederbrennen.

Derartige Brände würden — nach den Erfahrungen des zweiten Weltkrieges (Hamburg!) zu urteilen — sich zu Feuerstürmen

entwickeln, die durch den selbstgeschaffenen Luftzug die Flammen weiter anfachen, bis alles Lebende und alles Brennbare, sei es durch das Feuer, sei es durch den entstandenen Sauerstoffmangel, vernichtet ist und das Feuer von selbst erlöscht.

Abgesehen von diesen unmittelbaren Folgen würde eine solche Bombe zur wachsenden Verseuchung der Erdatmosphäre beitragen. Die radioaktiven Abfallprodukte der „gewöhnlichen“ Atombombe haben nur eine kurze Lebensdauer und verlieren ihre Gefährlichkeit relativ schnell. Bei der Explosion einer Wasserstoffbombe werden jedoch riesige Mengen des radioaktiven Kohlenstoffs 14 erzeugt und zugleich in der Atmosphäre angereichert. Kohlenstoff 14 hat jedoch eine sehr lange Lebensdauer. Erst in 5600 Jahren verliert er die Hälfte seiner Radioaktivität.

„Nach uns die Sintflut!“ mag mancher Leser denken. Nein, die Sintflut ist vor uns. Wir können die Verantwortung und die Sorgen nicht auf unsere Kindeskinder abwälzen, denn wir werden vielleicht keine Kindeskinder mehr haben. Die Fortpflanzungsorgane leiden zu allererst unter der zerstörenden Wirkung des Kohlenstoffs 14. Jedem normalen Menschen ist von Natur aus das Bestreben zur Fortpflanzung angeboren. Für Mann oder Frau ist es in allen Kulturen und ebenso unter Wilden eine Tragödie, zu erfahren, daß man unfruchtbar sei. Nur noch eine Erkenntnis ist schlimmer: das Bewußtsein, nur monströse Mißgeburten auf die Welt bringen zu können ...

Gegen andere Strahlen mag man sich schützen können, indem man sich unter die Erde verkriecht oder ein neues Höhlenmenschendasein beginnt, aber Luft braucht man selbst unter der Erde, und Gasmasken schützen nicht vor Atomen. Wir würden dann unter allem andern leiden — nur nicht unter Langeweile.

Die Wasserstoffbombe hat nur einen Vorteil: Nach 12 bis 13 Jahren wird Tritium, der radioaktive überschwere Wasserstoff, wertlos. Man kann also Wasserstoffbomben nicht speichern wie die Uran- oder Plutoniumbomben.

Nun war die Wasserstoffbombe von Eniwetok ein erstes primitives Modell. Zum Unterschied von den früheren Atombomben, die eine bestimmte Größe nicht überschreiten durften, ist die Größe einer Wasserstoffbombe theoretisch unbegrenzt und . selbst praktisch nur durch die Bedingungen des Transportes beschränkt. In seiner Abschiedsbotschaft an den Kongreß deutete Präsident Truman an, daß die Wasserstoffbombe das Antlitz unseres Planeten verändern könnte. Wenige Tage später deutete Präsident Eisen-hower in seiner Antrittsansprache sogar an, daß die Wasserstoffbombe die Geschichte der Menschheit auf dieser Erde beenden könnte. Ministerpräsident Malenkow begnügte sich mit der Erklärung, daß auch die Sowjetunion im Besitz der Wasserstoffbombe sei.

Wer sich einmal den Finger verbrannt hat, kann sich einen Waldbrand ausmalen. Aber wie soll er sich ohne die geringste Erfahrung das millionenfach heftigere Wüten einer

Wasserstoffbombe vorstellen? Genügt es, zu sagen, daß der von ihr verursachte Feuerstoß noch auf 15 Kilometer Entfernung auf der unabgeschirmten Haut Brandwunden dritten Grades hervorruft?

Als vor zwei Jahrzehnten die Tennessee Valley Authority errichtet wurde, um den Fluß zu regulieren und zugleich den ganzen rückständigen Staat mit elektrische Energie zu versorgen, wollte dort niemand von den Bloßfüßigen an Elektrizität glauben. David Lilienthal, der spätere Leiter der Atomenergiekommission, erzählt, wie er mit Demonstrationsapparaten zu den Hinterwäldlern ging, um ihnen zu zeigen, wie das unsichtbare Zauberding, das an den Drähten entlang lief, Lampen zum Aufleuchten brachte und Maschinen in Bewegung setzte.

Der entscheidende Teil der Menschheit ist nicht bloßfüßig und lebt nicht hinter den Wäldern — wo man vielleicht zunächst geschützt wäre —, aber wir können uns die Kraft der Bombe ebensowenig vorstellen wie

noch vor kurzem die Menschen in Tennessee die Wirkung der Elektrizität.

Schon die Kinder erfreuen sich am Flaschengeist in 1001 Nacht, aber wird es uns gelingen, den Geist der Wasserstoffbombe wieder in die Flasche zu sperren? Leider können wir nicht, ähnlich wie Lilienthal es getan hat, die Wirkung der Wasserstoffbombe etwa an Ratten oder Mäusen oder Stubenfliegen vordemonstrieren.

Aber wenn wir es nicht glauben, dann könnten eines Tages wir das Ungeziefer sein, das man mit der Bombe ausrottet.

Wie soll die Menschheit nun aus dieser Sackgasse, in die sie sich hineinmanövriert hat, wieder herauskommen? Durch die internationale Atomkontrolle, durch die allgemeine Abrüstung oder vielleicht auch durch andere Mittel? Aber wie immer man es angreift, nun, da beide Hälften der Welt einander vernichten können, ist keine Zeit mehr zu verlieren. Denn sonst ist die Sintflut vor uns!

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