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Eine Bombe mit Zeitzündung

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Wer voraussah, daß die wirklichen Schwierigkeiten in Italiens kommunistischer Partei erst nach ihrem Kongreß beginnen würden, hatte leicht zu prophezeien. Der kürzliche Kongreß, mit vorsichtig ausgewählten Delegierten beschickt, konnte kein treues Bild der Stimmungen sein. Aber niemand erwartete, daß sich diese so bald und in so explosiver Weise Luft machen würden. Das Spundloch ist durch den ehemaligen Senator Eugenio Reale durchstoßen worden, der wegen seiner kritischen Aeußerun- gen in einem bürgerlichen Blatt aus der Partei ausgeschlossen wurde. Parteisekretär Togliatti versuchte ein Exempel zu statuieren, hat aber sofortį prkeijnen müssen, daß die gewohnte Methode, .sich unliebsamer Kritiker zu entledigen,

nicht mehr anwendbar ist. Es gibt heute schon zuviel Kommunisten, die wie Reale mit dem eigenen Kopf und nicht mit dem Togliattis denken wollen.

Eugenio Reale, der einstige Staatssekretär im Außenministerium und Botschafter in Warschau, gehört der Partei seit 1926 an; er hat die kommunistische Organisation in Neapel zweimal aufgebaut, während und nach dem Faschismus; er hat zehn Jahre seines Lebens in italienischen und französischen Kerkern verbracht. Das hat ihm unter den Kommunisten Neapels großes Prestige eingebracht und er darf auf die Solidarität von vielen unter ihnen rechnen. Ein anderer der alten Garde Neapels, der Abgeordnete Maglietta, hat ehe® erklärt: „Es gehen viele interessante Dinge in der kommunistischen Partei Neapels vor, einige davon sind tragisch und bitter. Es ist ein lebhafter Gedankenaustausch über die Probleme im Gange, die unsere Organisation erschüttern. Wir können vorderhand nicht über die von Reale befürwortete Aenderung der Marschrichtung diskutieren, aber was uns quält, ist die Art und Weise, wie das Sekretariat seinen Fall behandelt hat.“

Eugenio Reale ist zu einem „Fall“ geworden, weil er folgendes erklärte: Die Entstalinisierung ist ein positiver Prozeß, doch Togliatti ist im Grunde seines Herzens dem alten Patron treu geblieben. Vor einigen Genossen hat er nach dem Moskauer Kongreß bemerkt: „Ihr könnt mich zynisch nennen, aber ich hätte alles genau so getan wie Stalin.“ Togliattis Erneuerungsbestrebungen sind Spiegelfechterei, in Wirklichkeit glaubt er nicht an die Festigkeit der derzeitigen Führergruppe in Moskau; er weiß, daß der Kampf um die Macht noch lange nicht entschieden ist und versucht Zeit zu gewinnen. Deshalb hat es in der italienischen KP auch keine offene Verurteilung für alles das gegeben, was in der Sowjetunion, in Budapest, Sofia und Bukarest geschehen ist, die Vergewaltigung der sozialistischen Legalität, die monströsen Prozesse, die sowjetische Intervention gegen das ungarische Volk. Italiens KP verharrt in ihrer senilen Unterwürfigkeit gegenüber der Sowjetunion.

Reale sollte kurzerhand und statutenwidrig vor die Türe gesetzt werden. Aber die Reaktion war derart, daß man ihm zumindest den Rekurs gestatten mußte. Der Fall Reale ist somit noch nicht zu Ende, ebensowenig wie jener der sechs „Intellektuellen“ zu Ende ist, die in der Erkenntnis, daß die italienische kommunistische Partei keinen autonomen Weg zum Sozialismus finden kann und nicht einmal finden will, gemeinsam einen Abschiedsbrief geschickt haben. Wenn ihr Beispiel in diesen Tagen soviel Aufsehen verursacht hat, dann nur deshalb, weil so viele andere Fälle im diskreten Dunkel blieben. Ihre Namen waren allerdings ein glänzendes Aushängeschild gewesen: Zwei Universitätsprofessoren von internationalem Rang, der Ordinarius für italienische Literatur Sapegna und der Rechtsgelehrte Crisafulli, der Maler Puri- ficato, der Literaturkritiker Trombatore, der Bildhauer Leonardi und der Architekt Longo. Die offizielle „Unitä" hat. um den Schlag zu parieren, jetzt eine Liste von sechzehn lntellek-tuellen veröffentlicht, die nicht aus der Partei ausgetreten sind. Das erinnert beinahe an eine alte chinesische Geschichte von dem Kapitän und dem Steuermann, die, verfeindet, auf der gleichen Dschunke fuhren. Um den Steuermann zu ärgern, trug der Kapitän eines Tages in das Bordbuch ein: „Heute war der Steuermann betrunken.“ Am Tage darauf aber fand er darunter den Vermerk des Steuermannes: „Heute war der Kapitän nicht betrunken.“ Der Abgeordnete Antonio Gioletti, der auf dem letzten Kongreß so feurig die These von einem demokratischen Kommunismus vertreten hatte, ohne zu merken, daß er sich bereits auf den Positionen der Sozialdemokratie befand, ist am vergangenen Sonntag von der Parteileitung in seiner Provinz neu bestätigt worden und alle seine Kritiken wurden anerkannt. Damit ist aber ein Disziplinarverfahren gegen ihn unmöglich geworden.

Man gewinnt also den Eindruck, daß die Parteiführung auch die Kontrolle über die Arbeiterschaft des industrialisierten Nordens zu verlieren beginnt. Die Partei kann aber weder auf die Intellektuellen noch auf die Arbeiter verzichten. Sonst tritt das ein, was Eugenio Reale vorausgesagt hat: die KP Italiens, von den Intellektuellen und der Arbeiterschaft verlassen, wird die Partei des bäuerlichen Unterproletariats des Südens werden. Gewiß, auch dieses stellt eine Macht dar. Aber wenn es wahr ist, daß es keine starke kommunistische Partei ohne die Massen geben kann, so ist es auch wahr, daß die Massen ohne Intellektuelle und Arbeiterschaft keine dauernde Macht ausüben können.

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