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PS und Paragraphen

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Als der Nationalrat das gegenwärtig geltende Straßenpolizeigesetz beschloß, stand im Vordergrund die Notwendigkeit, die bis dahin geltenden deutschen Vorschriften zu ersetzen. Man hat damals im Jahre 1946 auf die vor 193 8 bestandenen Bestimmungen zurückgegriffen, die sich auf Vorschriften aus dem Jahre 1935 stützten. Eine Aenderung war hauptsächlich aus drei Gründen geboten: erstens hat sich die Zahl der Kraftfahrzeuge vervielfacht (31. Oktober 1948: 199.423; 31. Oktober 1957: 722.469) und gleichzeitig technische Fortentwicklung sowie der Baubeginn von Autobahnen die Möglichkeit höherer Geschwindigkeiten eröffnet; zweitens hat Oesterreich das Abkommen über den Straßenverkehr und das Protokoll über Straßenverkehrszeichen sowie die Schlußakte der Konferenz der Vereinten Nationen über Straßen-und Kraftfahrzeugverkehr ratifiziert; drittens müssen die im Bereich der ECE ausgearbeiteten Empfehlungen auf dem Gebiet der Straßenpolizei berücksichtigt werden. Ferner muß man in Betracht ziehen, daß die Schaffung von kreuzungsfreien Straßen, von sanierten Ortsdurchfahrten und unterirdischen Fußgängerwegen mit der rasanten Entwicklung der Motorisierung nicht Schritt halten kann (von den fehlenden Geldmitteln braucht man nichts weiter zu sagen), und daß zudem eine Großstadt wie Wien mit ihrem schwerfälligen Straßenbahnverkehr und dem Fehlen von Untergrundbahnen die Probleme vervielfacht.

Grundlegend für alle, ob mit, ob ohne PS — und immer Anlaß zu Klagen in der Presse —, ist das Verhalten im Straßenverkehr. Es hat sich gezeigt, daß der 7 des bisherigen Straßenpolizeigesetzes zu allgemein gefaßt war. Der neue Entwurf zählt im 3 Abs. 2 ausdrücklich jene Menschen auf, denen besondere Rücksicht gebührt: Kinder, offensichtlich Körperbehinderte, Kranke und Gebrechliche sowie Träger der gelben Armbinde mit den drei schwarzen Punkten in Dreieckform sowie diejenigen, welche den weißen Stock führen. Herauszustreichen ist das Verhalten bei Unfällen. Die Erläuterungen zum 4 Abs. 6 sagen: „Einem Verunglückten Beistand zu leisten, ist eine moralische Verpflichtung. Die Außerachtlassung dieser Verpflichtung durch eine Person, die den Verkehrsunfall nicht verschuldet hat, ist bisher rechtlich nicht faßbar.“ Nun wird endlich mit der wiederholt beklagten Gleichmütigkeit (und dem Geschäftssinn) aufgeräumt, die Passanten bei Unfällen zeigten. Bedauerlich, daß es dazu eines Gesetzes bedarf. Hat es doch Fälle gegeben, wo sogar die Benützung des Telephons verweigert wurde, weil es nicht sogleich klar war, wer die Spesen tragen sollte. Im Verordnungswege wird man dieses, für sonderbare Zeitgenossen bewegende Problem klären müssen.

Die ärztliche Untersuchung von Straßen-benützern bei Unfällen bleibt ein heikler Punkt. Es heißt zwar, daß Lenker von Kraftfahrzeugen, bei denen auf Alkoholeinwirkung zu schließen ist, von Organen der Straßenaufsicht einem für den Ort der Beanstandung zuständigen Gemeindearzt (Distriktsarzt) vorzuführen sind und der Vorgeführte diese Untersuchung zu dulden hat. Es bleibt zu diskutieren, warum eine Verpflichtung zur Blutabnahme in das Gesetz nicht aufgenommen wurde. Die Erläuterungen zum Gesetzentwurf, sprechen von der Würdigung der Unversehrtheit des menschlichen Körpers und von der Möglichkeit einer Infektion bei einem solchen Eingriff. Wir halten beide Begründungen nicht für unbedingt stichhältig. Zur Rechtsfindung müssen alle Mittel angewandt werden. Man wird zwar einwenden, daß ein Mensch mit gutem Gewissen sich nicht gegen die Blutprobe wenden wird und eine diesbezügliche Weigerung schon verdächtig ist. Immerhin kann man sich psychologisch verständliche Fälle vorstellen, wo ein Mensch befürchtet (trotz ärztlicher Schweigepflicht, nur aus dem Bewußtsein eines gesellschaftlich diskriminierenden Leidens), durch die Probe werde etwas publik, das er zu verhehlen bestrebt ist. Er wird sich deshalb einer Blutprobe widersetzen. Wer den Massenbetrieb in Laboratorien gesehen hat, wo Senkungen und Blutbilder am laufenden Band gemacht werden, ohne daß Infektionen auftreten, wird die Bedenken des Gesetzgebers in dieser Hinsicht nicht teilen können.

Die Vorschriften, die im II. Abschnitt hinsichtlich der Fahrregeln zusammengefaßt sind, werden bei den 8 und 14 auch den Anliegen der Nichtmotorisierten gerecht. Fußgängern, die sich auf einem Schutzweg (bodenmarkiert) befinden, ist in geeigneter Weise, etwa durch Verringerung der Fahrgeschwindigkeit, ein Ueber-queren der Fahrbahn „in angemessener Eile“ zu ermöglichen. Was freilich für einen Normalmenschen angemessene Eile ist, bleibt Ansichtssache. Man wird einem Passanten auf 100 Meter Abstand, sofern keine Anzeichen von Gebrechen sichtbar sind, nicht anmerken können, warum er langsamer als „angemessen“ über den Zebrastreifen geht. Ein krankes Herz verfügt derzeit noch über keine leuchtende Verkehrsampel. Für das Vorbeifahren von Kraftfahrzeugen an Straßenbahnhaltestellen (und überquellenden Haltestelleninseln bei Verkehrsspitzen) wird richtigerweise bestimmt, daß ein Passieren nur in Schrittgeschwindigkeit und mit entsprechendem Abstand stattfinden darf — was heute nicht immer befolgt wird.

Drei Punkte in der Gesetzvorlage sind über den eigentlichen verkehrspolizeilichen Zweck höchst beachtenswert. Zunächst die Bestimmungen gegen die Lärmplage der Motorfahrräder. In Wien gab es am 1. September 1956 insgesamt 20.426, am gleichen Monatstag 1958 bereits 30.815 Motorfahrräder. Sie werden hinfort — die nötige Aufmerksamkeit der Polizei vorausgesetzt — nicht mehr dutzende Male die gleiche Straße auf- und abbrausen, nicht „länger als unbedingt nötig“ den Motor am Stand laufen lassen dürfen und müssen Vorrichtungen zur Dämpfung des Motorengeräusches anbringen. Ob es richtig war, die Besitzer von Motorfahrrädern (Mopeds) vom Besitze eines Berechtigungsscheines freizustellen, kann bezweifelt werden. Ausdrücklich spricht der 58 ein Verbot jeder unnötigen oder länger als notwendigen dauernden Betätigung akustischer Warnvorrichtungen, „insbesondere vor Kirchen“, aus. Hierher gehört auch das Herbeihupen von Bekannten und die Abgabe eines Signals, um sich freie Bahn zu verschaffen oder seinen Unmut über irgendeinen Stillstand im Verkehr aus-zututen. Es ist sehr zu wünschen, daß die Behörde, wie der 58 Abs. 4 vorsieht, „wenn auf Grund der örtlichen Verhältnisse oder im Hinblick auf die besondere Widmung eines Gebietes ein besonderes Bedürfnis zur Ruhe besteht“, möglichst sinngemäß und großzügig vorgeht. Die „besondere Widmung“ eines Gebietes in Ehren, aber schließlich haben die Bewohner dicht verbauter Wohnblöcke das gleiche Recht auf Nachtruhe wie Gartenstädte, Villenvororte und Sanatorien. Die zweite beachtenswerte Stelle, der 74, wird, solange ein Tierschutzgesetz aussteht, hoffentlich die Exekutive zu schärferem Eingreifen veranlassen und ein Pferdeschinden bei zu großen Lasten (wie dies auf dem flachen Lande immer wieder vorkommt) unterbinden. Der dritte Punkt betrifft die Beschilderung. Je mehr Bäume abgeholzt werden, desto mehr Schilder forstet man auf. Eine Ueberprüfung ihrer Notwendigkeit alle zwei Jahre, wie vorgesehen, scheint uns zu weit erstreckt. Eine Kontrolle der Schilder müßte jedes Jahr durchgeführt werden. Sie hat sich, was nirgends ausdrücklich vermerkt ist, “auch klarzuwerden, was zur Entschandelung der Landschaft zu geschehen hat. Das betrifft nicht nur die Ankündigungsschilder der Tankstellen (erfreulicherweise ist das Verkehrszeichen dafür nur einmal innerhalb 1000 Meter gestattet), sondern auch die Abgrenzung der Zusatztafeln, die Art des Treibstoffes betreffend. Bei der Neonitis und den pompösen Tankstellenbauten entlang unserer Straßen, die nicht immer in die Gegend passen, ist eine besondere Werbung unnötig. Darüber hinaus sollte sich der Gesetzgeber einmal die leeren Häuserwände (Feuermauern) besehen, wie man sie reißerisch und schwerlich verkehrssichernd propagandistisch bemalt!

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