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Vor grober Entscheidung

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Der an die Abrüstungskommission der Vereinten Nationen gerichtete neue Vorschlag Moskaus knüpft an frühere sowjetrussische und auch von Frankreich und Irland letztlich vertretene Formulierungen an, die auf eine kontrollierte allgemeine Rüstungseinschränkung und Verpönung der Atomwaffen gerichtet waren. An der Spitze des neuen sowjetrussischen Vorschlags steht der Satz:

„Vorräte an Atom- und Wasserstoffwaffen sind vollständig zu vernichten und die Atommaterialien ausschließlich für friedliche Zwecke zu verwenden.“

Das bisher vernehmliche Echo aus Washington klingt nicht sehr verheißungsvoll, das aus London zurückhaltend. Die amerikanischen Stimmen bezweifeln, daß Moskau eine wirksame Kontrolle der Atomwaffe zulassen werde. In London will man die Ernsthaftigkeit der russischen Aktion nach dem Ergebnis ermessen, das die für 25. dieses Monats angesetzte Wiederaufnahme der Kommissionsverhandlungen im Rahmen der UNO erbringen wird.

Die Welt stand noch ganz unter dem schweren Erlebnis des zweiten Weltkrieges, den Menschen tönte noch das Heranbrausen der Tod und Vernichtung bringenden Bombengeschwader in den Ohren, vor ihren Augen lagen noch die Ruinenfelder ihrer Städte, als im Herbst 1946 das Mächteübereinkommen unterzeichnet wurde — auch von Rußland —, das die Erzeugung von Atomenergien vom Rohprodukt her, schon an den Uraniumgruben, unter eine effektive Kontrolle zu bringen bestimmt war. Das erfolgverheißende Beginnen wurde nicht fortgesetzt. Fortan wuchs mit der fieberhaft fortschreitenden Forscherarbeit und Produktion der Atombombe die aus der unbeherrschten Entfesselung der Materie drohende Gefahr ins Riesenhafte. Sie steht heute wie die altgermanische Ahnung eines „Muspilli“, des drohenden Weltunterganges, über der Menschheit.

Eine Londoner Wochenschrift vom Range des „Spectator“ läßt in ihrer Folge vom 11. Februar den Marschall der britischen Luftstreitkräfte Sir Robert S a u n d b y auf die Frage antworten: ,,Could Britain fight?“ Das Blatt ergänzt die aufs erste paradox erscheinende Frage, ob heute im Notfall eine Weltmacht von der Bedeutung des britischen Imperiums noch kämpfen könne, durch einen Kommentar, der an den Weihnachtsrundspruch Lord Russeiis erinnert, daß fünf Wasserstoffbomben den Angegriffenen im Kriege erledigen könnten; was hieße es schon, wenn selbst fünf von zehn solchen Angreifern abgeschossen werden können, wenn die überbleibenden fünf den Angegriffenen schachmatt zu setzen vermöchten? In aller Offenheit erklärt dazu Marschall Saundby, also ein autoritativer Führer der britischen Luftverteidigung :

„Wir können vielleicht hoffen, einen Stand (der Verteidigung) zu erreichen, bei dem ein großer Prozentsatz feindlicher Bomber zerstört werden könnte. Aber 'einige würden immer durchkommen. Und einige von diesen, die durchkommen, würden imstande sein, ihre Wasserstoffbomben auf und nahe ihren Zielen abzuwerfen. Keine Luftverteidigung würde imstande sein, Verwüstungen ungeheuren Ausmaßes zu verhindern. Es ist natürlich unmöglich, abzuschätzen, wieviel Wasserstoffbomben notwendig sein würden, um diesem Land den Knock-out zu geben. „Es kann die Frage aufgeworfen werden“, sagt fortfahrend der Marschall, „ob die Russen innerhalb absehbarer Zeit 50 oder 100 Wasserstoffbomben zur Verfügung haben werden. Bei einer Antwort kann man nur raten, aber es muß daran erinnert werden, daß moderne Atombomben ohne große Kosten in Wasserstoffbomben verwandelt werden können. Und es ist sicher, daß früher oder später eine • Zeit kommen wird, da die Russen einen großen Vorrat an Wasserstoffbomben besitzen werden.“

Marschall Saundby rechnet jedoch damit, daß man sich auf der anderen Seite bewußt ist, daß im Falle eines überraschenden Angriffs auf den Westen innerhalb weniger Stunden die ganze Luftmacht der Nordatlantikpaktmächte, beladen mit Wasserstoffbomben, von hunderten Basen aufsteigen und mit ihren Geschossen die Hauptrentren des Feindlandes „pulverisieren“ würde. Der Marschall schließt seine Aussage mit den Worten:

„Selbst der größenwahnsinnigste Diktator wird schwerlich sich selbst oder seinen Kollegen einreden können, daß die beste Art oder auch nur eine mögliche Art einer Auseinandersetzung mit einer anderen Großmacht in einem schrankenlosen Krieg bestehen würde. Im besten Falle würde das einen allgemeinen Selbstmord bedeuten und den Verlust großen Teils menschlicher Leistung der letzten tausend Jahre und im schlechtesten Falle die Auslöschung alles Lebens auf der Erde. Und je klarer die Völker der Erde die Natur der Wasserstoffkriegführung verstehen, desto rascher werden sie jene Stufe erreichen, an der alle Völker erfassen werden, daß sie auf Kriege als Instrument der Politik verzichten oder die Wahrscheinlichkeit einer Ausrottung der menschlichen Rasse in Kauf nehmen müssen.“

Ist diese von der Wissenschaft erhärtete Wahrheit, für die hier ein soldatischer Führer von hoher Warte Zeugnis ablegt, schon überall erkannt worden?

In der gleichen Nummer des „Spectator“ sprechen nach Marschall Saundby zum' Thema auch Lord Hailsham, Cyrill Falls, Captain George Thompson und in einem Schlußwort die Redaktion. Wiederholt klingen dabei Meinungen auf, daß die Existenz der Wafferstoffbombe als vorbeugendes Abschreckungsmittel zur Vergeltung oder zur Erringung des Sieges ihre Nützlichkeit behalte.

Warnend, beschwörend, zur Besinnung, Verständigung und zum Frieden rufend, hat der Papst in seiner Osterbotschaft sich immer wieder an die Weltöffentlichkeit gewandt. An jenen Stellen, an denen die Entscheidung zu fallen hat, hat bisher nur tödliche Stille geantwortet.

Wenn schon die Vernunft zögert und zu verstummen droht — das christliche Gewissen kann nicht schweigen.

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