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Was erregt den Bundesbürger?

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In diesem Jahr des Gedenkens an Friedrich Schillers 200. Geburtstag haben zwar alle Theater Westdeutschlands ihren Beitrag durch Aufführung Schillerscher Dramen geleistet. Es ist aber von nirgends die Kunde gekommen, es sei etwa bei einer Aufführung der „Räuber" zu ähnlichen Tumultszenen gekommen, wie in der Mannheimer Uraufführung 1782. Man sage nicht, der moderne Mensch sei zu solchen Exzessen nicht mehr fähig. Das von Teenagern beiderlei Geschlechts bei Auftritten von Elvis Presley zerschlagene Mobilar spricht da eine andere Sprache. Der Anlaß, nicht die Fähigkeit zur Erregung haben sich gewandelt. Und so mag denn am Ende dieses Jahres die Frage erlaubt sein, worüber sich der westdeutsche Bundesbürger 1959 erregt hat.

An politischen Anlässen hätte es nicht gefehlt. Außenpolitisch gab die Berlinfrage genug Stoff zur Aufregung, und innenpolitisch hätte das Trauerspiel um die Nachfolge von Professor Theodor Heuß genug Anlaß geboten, die demokratischen Barrikaden zu ersteigen. Aber nichts dergleichen geschah. Bei der einzigen großen Demonstration dieses Jahres sah man die „randalierende Arbeiterschaft“ gewissermaßen auf roten Kokosläufern wohlgeordnet die nicht vorhandenen Barrikaden hinüberschlurfen. Auch hier war der Anlaß streng genommen nicht ein politischer. Der Protestmarsch, der jedem Direktor von Touropa reine Freude bereitet hätte, galt der schlechten Absatzlage der Kohle. Zur Zeit der Demonstration war diese Frage mit der Regierung so weit bereinigt, als sie bereinigt werden konnte. Aber die Gewerkschaftsleitung konnte ohne nachhaltige Verärgerung ihrer Mitglieder den Herbstausflug nach Bonn nicht mehr absagen, und so zogen halt die Bergarbeiter durch das Bundesdorf, wie Bonn von vielen genannt wird, und demonstrierten. Schließlich wollten die Arbeiter ja auch einmal eine Gegenleistung für die jahrelang gezahlten Beiträge sehen.

Diese Demonstration ist für das politische Klima der Bundesrepublik recht charakteristisch gewesen. Es ist ruhig, es ist ohne Aufregung und selbst wenn es aufregende Erlebnisse gibt, betrachtet sie die breite Oeffentliohkeit schmunzelnd, quasi durch das Opernglas. Aber man prügelt sich deshalb ebensowenig, wie man heutzutage über die „Räuber" in Ohnmacht fällt. Weder der Hallstein-Prozeß noch die Bundespräsidentenfrage brachte andere als die Journalisten aus dem Häuschen, deren Beruf es ja bekanntlich ist, in den Gazetten in Aufregung zu machen.

Das sieht alles nach beneidenswertem Leben aus. Und in der Tat ist der Wohlstand in Deutschland auf eine Höhe gestiegen, wie er vorher in Deutschland nur selten anzutreffen war. Daß in solchen Zeiten politische Ereignisse mit mehr oder weniger großer Gleichgültigkeit betrachtet werden, ist eine alte Erfahrung. Zeiten politischer Gleichgültigkeit sind daher oft Brutstätten radikaler Ideen. 1891 nahmen die Gründer des Alldeutschen Verbandes diese Gleichgültigkeit zum Anlaß, um ihre kraftstrotzende Lehre deutschvölkisoher Ueberlegen- heit ins Volk zu tragen. Sie gewannen mit ihrer Aktivität viele, die mehr die Aktivität als die vertretene Lehre anzog. Davon ist allerdings zur Zeit in der Bundesrepublik nur soviel zu spüren, als zur Wachhaltung einer lethargischen Oeffentlichkeit nötig ist. Solche Aktivität würde ja auch auf ein Volk stoßen, das Fußballereignisse und Mordaffären für wichtiger hält als die hohe Politik. Selbst die so verfahrene Frage der Wiedervereinigung ist auf dem besten Weg, niemanden mehr so richtig zu berühren. Daß man in Ostdeutschland plötzlich eine andere Nationalflagge haben will, hat die Gemüter erst erregt, als es um die Frage ging,

welche Fahne der deutschen Olympiamannschaft vorangetragen werden sollte. Auch da ging es nicht um die Fahne, sondern um die Beteiligung einer deutschen Mannschaft. Die breite Oeffentlichkeit wollte nicht einsehen, weshalb wegen der fünf Ringe im schwarzrotgoldenen Banner das wirklich aufregende Ereignis der Olympischen Spiele für die Deutschen mangels Beteiligung einer deutschen Mannschaft jedes Interesse verlieren sollte. Die Meinung wurde recht unverblümt vertreten, „Bonn sollte sich wegen der fünf Ringe im deutschen Banner nicht so haben.“ Armes Bonn, welche Vorwürfe hätte es erst erhalten, wenn von ihm der Flaggenstreit ausgegangen wäre, weil Konrad Adenauer etwa plötzlich gerne einen deutschen Adler zum Unterschied zu den Ostdeutschen in die Fahne hätte setzen lassen!

Diese politische Gleichgültigkeit ist wohl in allen Zeiten wirtschaftlicher Prosperität zu finden. Was den Betrachter bedenklich stimmen könnte, ist der ausgesprochen schlechte Stil, der sich darüber in Bonn breitzumachen scheint. Man ist dort so sicher geworden, daß es so schnell nichts gibt, was dem Nimbus Adenauer schaden könnte, daß man sich gar keine Mühe mehr gibt. Man greift unbekümmert in schwebende Strafverfahren, wie in den Fällen Blan- kenhorn, Hallstein und Kilb, durch Erklärungen ein, in denen den Angeklagten noch vor dem Richterspruch pflichtgemäßes Verhalten bescheinigt wird. Der Bundeskanzler findet es nicht mehr der Mühe wert, im Bundestag zu außenpolitischen Fragen der Opposition Stellung zu nehmen, ganz zu schweigen von dem Rin-in-die- Kartoffel-und-raus-aus-die-Kartoffel-Spiel der Bundespräsidentenfrage. Adenauers formal vielleicht berechtigte Weigerung, eine an ihn persönlich gerichtete Frage im Bundestag zu beantworten, kann leicht dieses Instrument der Lächerlichkeit preisgeben, das sich, seit die CDU-CSU mehr als 50 Prozent der Parlamentssitze verfügt, sowieso schon schwer tut, sein Ansehen in der Oeffentlichkeit zu wahren. Gewiß regt sich heute niemand mehr darüber auf. Aber gerade deshalb wäre es wichtig, daß man von der Regierungsseite genau darauf achtet und nicht Diktator spielt, weil es gerade bequemer ist. Es könnte sonst der Fall eintreten, daß sich Deutschland in unruhigeren Zeiten nicht mehr demokratisch regieren läßt.

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