Sozialstaat, das Stiefkind der Integration

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Die europäische Integration hatte die Wirtschaft, nicht das Soziale im Fokus. Das beginnt sich zu rächen, wie die Sozialstaatsenquete zeigte.

Eine historische Achse ist gebrochen: Mit der Entwicklung der sozialen Marktwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg war stets ein Ausgleich im Antagonismus von Kapital und Arbeit, von Kapitalismus und Sozialwesen verbunden. Mit der in der Europäischen Union zuletzt verfolgten Wirtschaftspolitik - im wesentlichen den vier Grundfreiheiten - ging diese Verbindung verloren. Die Einführung des Euro und die Wirtschaftskrise haben zur Entkoppelung von Wirtschafts- und Sozialstaat geführt. Dies ist der Grundtenor der meisten Beiträge der 6. Sozialstaatsenquete, welche der Hauptverband der Sozialversicherungsträger und das Institut für Wirtschaftsforschung diese Woche in Wien abhielten.

Der - dem Thema und den Veranstaltern entsprechende - etwas sperrige Titel lautete denn auch: "EU und Sozialpolitik: Wie wirkt sich die verstärkte fiskalische Integration auf die länderspezifische Sozialpolitik aus?“ Belastend für die Staaten, risikoreich für Europa, ließe sich zusammenfassend sagen.

Auf das Soziale vergessen

Eine der wesentlichen Fragen sei, wie der Bremer Politikwissenschafter Stephan Leibfried ausführte, ob "auch Europa die Ehe von Marktwirtschaft und Sozialstaat vollziehen kann“? Seine Antwort: Die Europäische Union habe es mit der Einführung des Euro "so eilige gehabt, dass darauf vergessen wurde“.

Das führe nun zur Erosion der "Geschäftsgrundlage“ der Europäischen Union. Die wirtschaftliche Integration der EU mit ihrer starken Öffnung der Märkte sei von einer starken sozialen Polarisierung der Klassen gekennzeichnet. Das sei "die Achillesferse“ der Europäischen Union: Sie habe keine fiskalischen oder sozialpolitischen Mittel, um Krisenfolgen auszugleichen. Das einheitliche Währungsgebiet habe keine eigenen Kapazitäten, um soziale oder fiskalische Krisen auszugleichen. Erforderlich wäre - wie in anderen Bereichen auch - eine "europaweite Standardisierung“ in den Sozialversicherungen, beim Pensionsalter, in der Sozialhilfe und im Gesundheitswesen.

Ähnlich kritisch äußerte sich Eric Seils, Wissenschafter an der deutschen Hans-Böckler-Stiftung: Die wirtschaftliche Integration verlaufe abgekoppelt von der sozialen Integration, wie die vergangenen drei Jahrzehnte der EU zeigen würden. Den einzelnen Staaten bliebe als Folge von Beschränkungen und Vereinheitlichungen in der Wirtschafts- und Fiskalpolitik nur mehr die Möglichkeit, "Sozialleistungen zurückzufahren“, um im nationalen Hoheitsgebiet einen wirtschaftlichen Wettbewerbsvorteil zu erlangen. Das alles hat, wenig verwunderlich, Folgen.

Wegen der Wirtschaftskrise werde die EU ihr ambitioniertes Ziel nicht erreichen, demzufolge im Jahr 2020 zumindest 75 Prozent der zwischen 20 und 64 Jahre alten EU-Bürger in einem Beschäftigungsverhältnis beruflich tätig sein sollten. Schon derzeit seien, nicht zuletzt aufgrund der Arbeitslosigkeit, in der Europäischen Union rund 116 Millionen Menschen - knapp ein Viertel der EU-Bürger - dem "Risiko der Armut oder sozialen Exklusion ausgesetzt“, erläuterte Lieve Fransen, in der Europäischen Kommission als Direktorin für Sozialpolitik zuständig.

Die Raten der Armutsgefährdung - der EU-Schnitt beträgt laut Fransen exakt 23,5 Prozent - sind länderweise stark unterschiedlich ausgeprägt. Liegt sie in Österreich bei 15 Prozent, so beträgt sie in Ländern wie Rumänien oder Bulgarien 40 Prozent. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, weswegen der Leiter des Wirtschaftsforschungsinstitutes, Karl Aiginger, unterschiedliche Reaktionen auf die Krise einfordert.

Angesichts der Tatsache, dass rund 30 Prozent der heimischen Wirtschaftsleistung in Sozialausgaben fliessen - darunter acht bis neun Prozent in öffentliche Gesundheitsausgaben - bestehe keine Gefahr, "dass diese Ausgaben bei weiterhin steigendem Wirschaftswachstum reduziert werden müssen“, so Aiginger. Die gebotene Reaktion sei vielmehr eine andere, nämlich die Ansprüche an das Sozialsystem zu ändern. Gänzlich anders sei dies hingegen in den Krisenländern Südeuropas. Dort würde die "Budgetkonsolidierung um jeden Preis“ die sozialen Probleme verschärfen. Diese Probleme lägen, so Aiginger, in der ungleichen Verteilung der Einkommen und in der hohen Arbeitslosigkeit, vor allem der Jugendarbeitslosigkeit.

Die von Fransen referierten Daten aus der Kommission zeigen die Folgen: 40 Millionen Haushalte in der Europäischen Union sind arm beziehungsweise hoch armutsgefährdet. Von diesen seien es 38 Millionen Haushalte, in den kein Mitglied Arbeit habe und Einkommen erziele. Fransen wörtlich: "Das Hauptproblem sind niedrig ausgebildete Arbeitslose in Alleinverdienerhaushalten.“

Bildung und Rückversicherung

Bildung und Weiterbildung sind für Aiginger daher die Schlüssel, um die Ungleichheiten in den Einkommen zu vermindern und die Sozialstaaten zu modernisieren: "Eine stärkere fiskalische Integration Europas kann nicht ohne eingehende Reformen in den Sozialsystem mit Schwerpunkten auf neue soziale Risiken, auf Jugend, Bildung und Weiterbildung erfolgreich sein.“ Genau darin bestehe die erforderliche Ergänzung zum Fiskalpakt.

Um die soziale Kluft und jene zwischen den Regionen zu mildern, spricht sich Stephan Leibfried für eine doppelte Strategie aus: Nach dem Muster des Marshallplans solle zwischen den Regionen ein Lastenausgleich herstellt beziehungsweise eine offensive Strukturpolitik betrieben werden. Zugleich sei den einzelnen Staaten über die Integration in der EU eine "Rückversicherung“ anzubieten, etwa für Arbeitslosigkeit, so, wie sie die einzelnen Staaten eben für Arbeitslose anböten. Dies sei der naheliegende Weg, denn dann bleiben Leistungen national definiert, auch jene der Rückversicherung würden sich danach richten. Ein anderer Weg, etwa jener europaweiter Vereinheitlichung im Sozialwesen, sei derzeit nicht absehbar und wohl schwierig zu beschreiten.

Die sozialen Spannungen, so ließen es die Referenten der Enquete erkennen, würden die Integration Europas bedrohen: "Europa braucht eine dauerhafte soziale Gestalt. Niemand soll glauben, dass wir es noch einmal retten können“, sagte Leibfried.

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