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Wenn es das Glück der Erziehung gibt, dann findet es nicht dort statt, wo die Ratgeberliteratur behauptet.

Die Kinder "glücklich" zu machen, ist eine verbreitete Forderung an die Erziehung, die sich in unzähligen Ratgebern niederschlägt, ganze pädagogische Industriezweige am Leben erhält und keinen Widerspruch duldet. Man kann und darf nicht vom Gegenteil ausgehen, in der Folge wird Eltern und Erziehern ständige Aktivierung abverlangt. Nichts bleibt unversucht, das Glück der Kinder zu fördern, und je weniger Kinder es gibt, desto mehr scheint ihr Glück zur Maxime ihrer Erziehung zu werden. Wahlweise lässt sich auch von "Wohlbefinden" sprechen, das immer wieder neu angestrebt werden muss, und dies mit möglichst allen Mitteln. Glückliche Kinder sollen auf sehr definitive Weise der Regelfall der Erziehung sein; die Ausnahme von der Regel kann entsprechend bedauert werden.

Andererseits: Wer auf sein Leben zurückblickt und von sich sagen kann, er oder sie habe eine glückliche Kindheit gehabt, wird vielfach beneidet, offenbar weil "Glück" nicht der Regelfall der Erziehung ist. Man muss sozusagen Glück gehabt haben, um über eine glückliche Kindheit verfügen zu können. Oft wird darin das Reservoir eines glücklichen Lebens gesehen, das sich aus der Kindheit heraus entwirft, ohne allzu große Verbreitung zu erlangen. Lebensglück wird als seltene Größe betrachtet, und man kann die auffällige Neigung, ständig das Glück der Kinder fördern zu wollen, auch als Furcht vor den offenkundigen Grenzen der Erziehung betrachten.

Keine Glücksgaranten

Denn was so unbedingt angestrebt wird, deckt sich nicht mit der alltäglichen Erfahrung, die eher durch Stress und ständigen Beziehungsdruck gekennzeichnet ist. Als day-by-day-practice ist Erziehung nicht einfach ein Glücksgarant, auch weil genau das die Erwartung bestimmt. Aber jeden Tag passiert etwas Anderes, immer müssen neu Verknüpfungen gesucht werden und nie ist für die Probleme ausreichend Zeit vorhanden. Das Glück der Erziehung bräuchte Zeit, die immer weniger zur Verfügung steht, auch weil zwischen Erwachsenen und Kindern weit mehr als früher geplant und verhandelt werden muss, ohne sich auf einen und nur einen Konsens verlassen zu können.

Was geschieht, wenn "Glück" nicht die Grunderfahrung oder der Regelfall der Erziehung ist? Das Gegenteil muss ausgeschlossen werden, mindestens dürfen die Folgen nicht dramatisch sein; eine unglückliche Kindheit kann nicht einfach lebenslangen Schaden anrichten, wenn das Leben nach der Kindheit noch einen Sinn machen soll. Glück und Unglück stehen also in keinem Entsprechungsverhältnis, auch in dem Sinne, dass die Erfahrung von Glück die Erfahrung von Unglück nicht einfach aufwiegen kann. Und mehr noch, es ist unklar, was genau die "glückliche" oder die "unglückliche" Kindheit ausmachen soll. Das Glück der Erziehung wird sehr verschieden definiert, und dies unter der historischen Voraussetzung, dass materielle Knappheit in vielen Mi-lieus der Gesellschaft kein Thema mehr ist.

Elterliche Investition

Eltern investieren wie nie zuvor in die glückliche Kindheit von immer weniger Kindern, die selten befragt werden, ob sie für sich wünschen, was die Erwachsenen als ihr Glück vorgesehen haben. Demgegenüber ist die öffentliche Meinung sehr eindeutig: Niemand könnte ungestraft zugeben, er oder sie strebe keine "glückliche" Kindheit für seine Kinder an, obwohl oder weil in den Vorstellungen von Glück reale Kinder, denen die unzähligen Inszenierungen gelten, kaum vorkommen. Glück aber kann nicht verordnet werden; was immer man in der Erziehung tun mag, glücklich können nur die Kinder sein, nicht die Erziehung. Es wäre schwer erträglich, wäre die Erziehung ein Trichter für die Infiltration der Kinder mit "Glück".

Niemandem darf eine glückliche Kindheit missgönnt werden und "Unglück" ist kein Erziehungsziel, aber damit ist noch nicht bezeichnet, was das Glück der Erziehung sein soll. Die Kontrollgröße, das glückliche Kind, ist schwer bestimmbar, denn wann je entsprechen Kinder dem, was die Erwachsenen als ihren glücklichen Zustand definieren? Jede scheinbar eindeutige Relation lässt sich mühelos mit ihrem Gegenteil in Verbindung bringen, die "behütete" mit der überbehüteten Kindheit, die "partnerschaftliche" Beziehung mit einseitiger Abhängigkeit, die Erziehung im "Dialog" mit fehlender Erziehungszeit und so weiter. So gesehen ist das "Glück der Erziehung" ein pädagogisches Versprechen, bei dem man zunächst froh sein muss, dass nicht ständig Unglück gefördert wird.

Seltenes Hochgefühl

Dass "Glück" zu einer überragenden Zielgröße der Erziehung hat werden können, bezieht sich auf einige paradoxe Voraussetzungen: Glück wird angestrebt, weil es selten und eigentlich unerreichbar ist. Aber ohne Streben nach dem Glück der Kinder hätte die Erziehung ein zu gutes Gewissen. Und: die Kinder müssen Glück haben, wenn ihre Erziehung gelingen soll. Das Gegenteil ist nicht Scheitern, sondern Irrelevanz, eine Erziehung, die die Kinder nicht erreicht und trotzdem stattfindet. Eine knappe Größe wie Glück kann nicht vermehrt werden und ist doch Ziel der Erziehung. Es wird angestrebt, obwohl es nicht erreicht werden kann, und dies um der Kinder willen, deren Glück weder vorgeschrieben noch vorweggenommen werden kann.

Kein dauerhafter Zustand

Reale Kinder entsprechen nicht dem, was für sie als Glückserfahrung vorgesehen ist. Wenn es das Glück der Erziehung gibt, dann findet es für beide, Erwachsene wie Kinder, anderswo statt als Ratgeberliteratur und Lernindustrie behaupten. Beide gehen davon aus, dass die guten Einwirkungen mit den richtigen Effekten verbunden werden können. Aber für Kinder wie für Erwachsene ist "Glück" keine stabile Eigenschaft und so kein dauerhafter Zustand, sondern herausgehobener Moment oder auch verborgenes Erlebnis, das nicht künstlich erzeugt werden kann. Erziehung bringt nicht Glück hervor, sondern wenn, dann schützt sie die Glückserfahrung, und dies keineswegs leicht, sondern in ständiger Anspannung.

Wer "glückliche Kinder" sehen will, muss für Events sorgen. Das Glückserleben der Kinder selbst ist davon unabhängig. Kinder vermeiden auch, untereinander davon zu sprechen, dass sie "glücklich" seien. Wenn Erwachsene wollen, dass sie glücklich sind, dann werden sie entsprechend antworten, sofern Minimalerwartungen erfüllt sind; aber Kinder verstehen es zugleich, sich gerade diesen Erwartungen auch zu entziehen, weil nur Distanzierung das Gewollte des Glücklichseins erträglich macht.

Das macht es schwierig, "Glück" als Zielgröße der Erziehung verstehen zu können. Erlebnisse wechseln, Stimmungen schwanken und niemand kann den Augenblick des Glücks festhalten, der auf eigensinnige Weise zu wirken versteht. Wer Kinder glücklich machen will, muss mit ihrem Widerstand rechnen, auch weil offen herbei geführtes Glück der Logik jedes Wunsches verfällt: je mehr erfüllt wird, desto weniger ist vorhanden. Demgegenüber ähneln heutige Erfahrungen in Konsumkulturen einem permanenten Weihnachtsfest, das durch Fülle und Präsenz unglücklich macht.

Kinder unterscheiden sich darin nicht von Erwachsenen, die nicht etwa mehr Glück erleben, je älter sie werden. "Glück" ist nicht steigerbar, so dass die Erziehung auch nicht fortschreitendes Glück oder gar Glücklichsein auf Dauer hervorbringen kann. Wenn Kinder Glück anders wahrnehmen als Erwachsene, dann vor allem im Blick auf ihr Zeiterleben, das erst sehr allmählich Planungshorizonte eröffnet. Sie lernen erst allmählich und durchaus mühsam, dass es Sinn macht, nach dem eigenen Glück zu streben, versteht man darunter den Horizont des eigenen Lebens.

Aber Kinder sind gerade im Blick auf ihr Glück keine besseren Menschen, wie oft angenommen wird. Sie sind nicht näher am Glück als die Erwachsenen, weil sie dann näher beim Paradies sein müssten, was - zu ihrem Glück - ausgeschlossen ist.

Der Autor ist Professor für Allgemeine Pädagogik an der Universität Zürich, Mitglied der British Society for Philosophy of Education und Mitherausgeber der "Zeitschrift für Pädagogik".

Der vorliegende Text ist die gekürzte Fassung eines Vortrags, den Jürgen Oelkers im Rahmen der vom Katholischen Bildungswerk Salzburg veranstalteten "51. Internationalen Pädagogischen Werktagung" halten wird. Titel der Veranstaltung, die von 15. bis 19. Juli in der Großen Aula der Universität Salzburg stattfindet: "... auf dass Kindheit glücke. Aufwachsen in einer unsicheren Welt." Nähere Infos unter www.kirchen.net/ka/pwt

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