6782536-1969_49_13.jpg
Digital In Arbeit

Literatur und Wirklichkeit

Werbung
Werbung
Werbung

Glücks-Verlangen und Lust-Streben sind dem Menschen angeboren, sind vielleicht das Relikt eines paradiesischen Urzustandes, von dem die Sehnsucht geblieben, die Erfüllung aber verspielt ist. Auch das Gehirn, das Depot der Erfahrungen, ist dem Menschen angeboren. Er müßte, zumindest in reiferen Jahren, wohl wissen, was es mit dem Glück auf sich hat. Notwendigenfalls kann er das auch bei einigen klugen Denkern nachlesen. Was er täglich liest, das sind aber nicht die Werke jener Einsichtigen, deren Bände die Verlage ins Defizit treiben, sondern die Offenbarungen einer Werbewelt, die uns bis in den suggerierten Traum beherrscht. Und diese Werbewelt verheißt uns immer und überall ein hochgradiges Glücksgefühl, wenn wir uns leisten, was sie uns preist. Von der Seife bis zum Auto, vom Taschentuch bis zur Villa, von der Tablette bis zum Regierungssystem, der ganze bunte Konsum der nutzlosen Nützlichkeiten dient keinem realen Zweck, sondern tendiert in Tiefen- oder Höhenschichten — wie man’s nimmt — unseres Bewußtseins. Tendiert dorthin, wo das seltsame, archaische Glücksverlangen daheim ist. Jede Plakatwand will uns das Paradies verkaufen. Das Glück liegt wahrhaft auf der Straße. Das Glück reich't uns bis zum Hals. Nur gleicht es dem Wasser, in dem Tantalus Durstqualen litt.

Für das lügenhafte Versprechen dieses nie erfüllten Glücks sind wir, wider alle Vernunft, täglich bereit, das Unglück auf dieser Erde zu vergessen: Vietnam und Biafra als aktuelle Beispiele, den gelähmten Nachbarn, das verlassene Kind, die bedrohte Ehe, die ungerechte Gesellschaft.

Eine Narkose der Glückslüge? Das wäre zuviel gesagt. Wir leben in einer Art leichtem Dämmerzustand. Es gelingt unserer Vernunft, die Lüge zu erkennen und zu durchschauen. Aber wir wollen das gar nicht. Wir machen es uns mit der Lüge bequem. Wer revoltiert schon gerne gegen sich selbst? Wer riskiert schon das Glück, das doch allerorten so reich vorhanden zu sein scheint und das wir nur wie durch einen dummen Zufall nicht erreichen?

Den Protest gegen diese Lebenslüge hat die Literatur schon lange gemeldet. Zuerst geschah es im Namen der Wirklichkeit, dann im Namen von Überwirklichkeiten und Gegenwirklichkeiten. Es geschah im Namen der Seele und der Naturwissenschaft. Heute geschieht es im Namen der Gesellschaft. Ein wissenschaftliches Mäntelchen braucht es ja immer. Aber seit einigen Jahrzehnten ist der Protest unüberhörbar geworden.

In der Zwischenzeit gab es, zum mindesten in der deutschen Literatur, noch einmal so etwas wie eine Restauration des Glücks. In den romanischen und angelsächsischen Ländern ist der Schriftsteller aus Tradition kritisch, nicht nur, wenn er progressiv gesinnt ist, sondern auch als Konservativer. Im Norden braute man aus Naturmythos und Gemeinschaftsmythos noch einmal die große Harmonie zusammen, in der es sich Wohlleben läßt. Daß man in jenen Jahren an die „schönen Täuschungen" glaubte, während die Vemichtungsfabriken liefen, hat die neue Generation nicht verziehen. Der Protest artikulierte sich endgültig angesichts der Atombombe. Bestätigung kam von großen und kleinen Einzelgängern der älteren Generation. Die „positive Literatur" wurde mit Acht und Bann belegt Inzwischen merkten nicht wenige, daß es sich auch im Protest Wohlleben läßt. An der moralischen Forderung, mit der die moderne Literatur vor die Konsumgesellschaft tritt, saugen sich Schmarotzer fest. Das ändert an der prinzipiellen Berechtigung dieser Forderung zwar nichts, kann ihre Glaubwürdigkeit in einzelnen Fällen aber in Frage stellen. Indessen ist die Proskription des Glücks allgemein geworden. Den Schriftstellern folgten die Kritiker, den Kritikern die Literaturhistoriker. Heute ist man sich darüber von den avantgardistischen Zirkeln bis zu den germanistischen Semi- narien nahezu einig. Leider vergißt man fast immer, daß dieser Konsens die Gefahr eines neuen Gesinnungsterrors birgt. Und wenn schon: es ist höchst selten einer bereit, das Odium auf sich zu nehmen, nicht auf der Höhe der Zeit zu sein, auch wenn diese Höhe eine Tiefe sein sollte.

Man kann die Sache drehen und wenden, wie man will: das Faktum bleibt bestehen, daß unsere Gesellschaft, die das Glück im täglichen Leben und Handeln zu ihrem Götzen erhoben hat, eine Literatur produziert, die das Unglück und das Elend unserer Menschheit zu ihrem Hauptgegenstand gemacht hat. Die Sprache der Schriftsteller versagt sich dem Glück. Nur Schlagertexter reimen noch „Glück“ auf „zurück“. Die „hohe Literatur“ nimmt ihre kontradiktorische Funktion auf vorbildliche Weise wahr, bloß die Trivialliteratur vermittelt nach wie vor Harmonie. Damit befriedigt sie ein Bedürfnis — aber sie befriedigt es auf ungute Weise. Doch sie hat leichtes Spiel, denn die ernste Literatur überläßt ihr kampflos das Feld. Die Sprache der Dichter nährt sich vom menschlichen Unglück. Unter den wenigen Ausnahmen gibt es weder junge noch deutsche Autoren. Was es aber mit einer programmatisch gelenkten „positiven“ Literatur auf sich hat, das kann man in Ostdeutschland beobachten. Die heile Welt läßt sich nicht künstlich hersteilen, sie läßt sich höchstens Vortäuschen, im befohlenen Glück einer utopischen neuen Gesellschaft oder im unbefriedigenden Glück des neuen Besitzes von Schönheitsmitteln, Autos und Kühlschränken. Es ist notwendig, daß die Unglücksliteratur dagegen immer wieder protestiert.

Und doch macht sie es sich mit diesem Protest zu leicht.

Das menschliche Dasein ist sonderbar gemischt aus Glück und Unglück. Mit dem Besitz hängt unser Glück zu einem nicht ganz unwichtigen, doch bei weitem nicht entscheidenden Teil zusammen. Utopien und Ideale können Glück schaffen. Aber auf lange Sicht braucht es noch etwas anderes: die Utopie muß den Weg zur Verwirklichung finden.

Vielleicht ist jedoch Glück im Grunde nicht mehr und nicht weniger als eine bestimmte Fälligkeit des Erlebens, individuell verschieden, abhängig von Anlagen und Talenten, angewiesen auf die Kontraste des persönlichen Schicksals — zum mindesten soweit die unmittelbaren materiellen Lebensbedürfnisse befriedigt sind. Vielleicht ist das Recht auf Glück eine andere Bezeichnung für das Recht, nicht bloß zu leben, sondern zu erheben: Phantasie, Freude — und auch Ordnung, Erkenntnis, Gestaltung.

Man hat oft gesagt, das Unglück sei für den Künstler ergiebiger und interessanter als das Glück und hat dabei sogar Dantes „Inferno“ gegen das „Paradiso“ ausgespielt. Es scheint, in unserer Zeit wäre über das Glück immerhin einiges Neues zu sagen. Die Sprache der Schriftsteller sollte sich dieser Aufgabe nicht verschließen. Der Mensch wird auf seine Sehnsucht nach Glück nie verzichten, er wird dafür immer BUder, Zeichen und Worte suchen, wenn es sein muß bloß Werbeslogans oder politische Schlagzeilen.

Warum überläßt es der moderne Autor der Verbrauchsgüterindustrie und'den politischeii Doktrinären, auf die Frage nach dem Glück zu antworten? Er könnte bessere, wahrere, differenziertere Worte dafür finden. Sein Protest gegen Halbheit und voreilige Versöhnungen würde damit nur an Kraft gewinnen. Kein Ritual des Glücks, gewiß, aber auch kein Ritual des Unglücks, wie es heute oft der Fall ist. Vielleicht hätte nicht nur der Leser, sondern auch der Schriftsteller selber in Sachen Sprache vom Glück — dem möglichen oder wirklichen, nicht dem hergestellten oder behaupteten — heute etwas zu lernen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung