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Kinder benötigen Führung und auch Pflichten

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Wie soll man heute - von einander ständig widersprechenden Experten verunsichert - Kinder erziehen? Kommt unsere Gesellschaft, unser Bildungssystem den Bedürfnissen der Kinder entgegen? Über diese im „Jahr des Kindes“ besonders aktuellen Fragen holte die FURCHE die Meinung des Rektors der Klagenfurter Universität für Bildungswissenschaften, Univ.-Prof. Josef Klingler, ein.

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Wie soll man heute - von einander ständig widersprechenden Experten verunsichert - Kinder erziehen? Kommt unsere Gesellschaft, unser Bildungssystem den Bedürfnissen der Kinder entgegen? Über diese im „Jahr des Kindes“ besonders aktuellen Fragen holte die FURCHE die Meinung des Rektors der Klagenfurter Universität für Bildungswissenschaften, Univ.-Prof. Josef Klingler, ein.

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„Die Erziehung ist komplizierter geworden, im Einzelfall sicher auch schwieriger, die Sicherheit, mit der bestimmte Ziele erreicht werden können, ist im allgemeinen gesunken.“ Mit dieser Feststellung beantwortet der Inhaber der Klagenfurter Lehrkanzel für Schulpädagogik, Univ.-Prof. Josef Klingler, die Frage, ob Kinder heute schwerer erziehbar seien als früher.

Eltern, die sich vom'Gerede um „autoritäre“ und „antiautoritäre“ Erziehung nicht verunsichern ließen, können sich von Klingler bestätigt fühlen. Für ihn ist „die Alternative autoritär - antiautoritär von vornherein ganz falsch“.

Eines glaubt der Klagenfurter Rektor mit Sicherheit sagen zu können: „Kinder benötigen zweifellos Führung. Diese Führung erfolgt von seifen der Menschen, die für die Kinder verantwortlich sind und die auch im Bezug auf Kenntnisse und auf die Lebenserfahrung einen gewissen Vorsprung aufweisen.“

Daß dabei neben einem Verhältnis der Geborgenheit für das Kind auch eine Form von Abhängigkeit entsteht, hält Klingler für notwendig und mahnt gleichzeitig: „Man sollte sich aber nicht darüber täuschen, daß sich die Erwachsenen allzu häufig in der Erziehung damit begnügen, ihre eigenen Bedürfnisse zur Geltung zu bringen und die Bedürfnisse der Kinder zu übersehen.“

Geht nun das heutige Bildungssystem genügend auf die Bedürfnisse der Kinder ein? Wird von den Schulkindern zuviel verlangt? Sind sie einem nicht mehr zumutbaren Streß ausgesetzt? Die steigende Zahl der Schülerselbstmorde scheint das zu bestätigen.

Oder haben jene recht, die immer wieder von „Nivellierung an den Schulen“ sprechen, also offenbar der Meinung sind, daß zumindest einem beträchtlichen Teil der Schüler höhere Anforderungen zugemutet werden könnten?

Rektor Klingler erscheint diese Gegenüberstellung nicht angemessen: „Es kommt nicht so sehr darauf an, ob ein Kind überfordert wird, sondern ob in einem Bereich, in dem die Anforderungen auch dem Kind sinnvoll, notwendig, interessant und spannend erscheinen, Angebote zur Verfügung stehen, die das Kind herausfordern. Sofern diese Bedingungen gegeben sind, kann man sehr viel fordern, beziehungsweise das Kind fordert ja von sich selbst sehr viel und leidet unter den Anforderungen kaum, ja kann sie geradezu als lustvoll erleben.“

Vor allem muß es darum gehen, die Beziehung von Lehrstoff und Leben dem Schüler möglichst einsichtig zu, machen. Mit einer besseren Organisationsform der Schule allein wird man laut Klingler wenig ändern können. Die Integrierte Gesamtschule hält der Klagenfurter Bildungswissenschafter für die „gegenwärtig beste Form, die wir kennen, sofern man in der Gesamtschule versucht, jene Aspekte zur Geltung zu bringen, die das schulische Leben für das Kind spannend, interessant erscheinen lassen“.

Die vieldiskutierte Fünftagewoche hält Klingler dann für positiv, wenn bestimmte Voraussetzungen vorhanden sind:

• Keine Häusübungen (genügend Ubungsmöglichkeiten in der Schule),

• Möglichkeit zum Mittagessen (nicht nur ein Raum, wo die Kinder mitgebrachte Jausenbrote hinunterschlingen)

• umfangreiche Möglichkeiten zum gemeinsamen Spiel.

Die Tatsache, daß es heute immer mehr Einzelkinder gibt, beziehungsweise viele Kinder, die nur mit einem weiteren Kind in der Familie aufwachsen, ist für die Erziehung laut Klingler zunächst einmal neutral, „nur ist sicher richtig, daß bei entsprechender erzieherischer Gestaltung eine größere Geschwistergruppe viel reichhaltigere Möglichkeiten sozialer Erfahrungen bietet als eine sehr kleine Familie oder gar eine Familie mit einem Einzelkind“.

Der Trend zur sehr kleinen Familie beruht nach Klinglers Meinung auch darauf, daß man bei der Verkehrs-, Umwelt- und Wohnungsplanung auf Kinder, beziehungsweise auf kinderreiche Familien kaum Rücksicht nimmt, „daß die finanziellen, materiellen Bedingungen für größere Familien eigentlich nicht vorgesehen sind; die existieren im sozialen Bewußtsein nicht“.

Zum Stichwort „Jugendkriminalität“ und zur vielzitierten Auslöserfunktion brutaler Fernsehprogramme gibt sich Klingler zurückhaltend: „Ich erwarte eigentlich nicht, daß jemand durch einen Film, in dem Brutalität geradezu verherrlicht wird, auf die Dauer irgendwie beeinflußt wird, höchstens erschrickt er, wenn er entsprechend erzogen ist.“

Zusammenfassend plädiert der Klagenfurter Rektor für eine materielle Besserstellung der Familien, für mehr räumliche Möglichkeiten für Kinder in Parks, Schulen und Wohnungen und vor allem für eine Veränderung des öffentlichen Bewußtseins: „Daß nämlich Erziehung als ungemein wichtige soziale Aufgabe anerkannt wird und nicht einfach so als Nebenbeschäftigung in der Freizeit, wenn man sonst nichts Besseres zu tun wüßte, wie es manchmal durchklingt.“

Voll zu unterschreiben ist wohl seine Forderung, den Heranwachsenden mehr Einflußmöglichkeiten zu geben, zugleich aber nicht so unsicher zu sein, daß man sich überhaupt nichts mehr zu fordern traut und glaubt, ein Kind müßte auf diese Art glücklich werden: „Dabei wissen wir doch alle selbst sehr genau, daß wir glücklicher geworden sind auch durch die Pflicht, also durch die Anforderungen, denen wir uns stellen mußten, weil wir dann Erfolge hatten.“

Scharf ins Gericht geht der Klagenfurter Pädagoge mit jenen, die - was ihm auf eine geringe Kinderfreundlichkeit der Gesellschaft hinzudeuten scheint - heute Entscheidungen treffen, die zur Folge haben, daß der kommenden Generation nicht nur eine wenig lebenswerte Umwelt, sondern auch noch die Kosten dafür hinterlassen werden: „Man hört ja sehr viel die Argumente, nicht wir werden das alles bezahlen, es sollen auch die noch zahlen, die nach uns kommen. Vielleicht haben sie nicht mehr viel, um damit bezahlen zu können.“

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