6678872-1961_35_01.jpg
Digital In Arbeit

Blitzlicht

Werbung
Werbung
Werbung

Kein Mensch ist imstande, zu gleicher Zeit mehr wahrzunehmen als das, was er in seinem Blickfeld hat. Dieses Blickfeld ist dann noch besonders begrenzt, wenn es von einem grellen Scheinwerfer beleuchtet wird, der durch seine Überhelle schon die nächste Umgebung im Dunkel versinken läßt. Die sowjetische Politik nötigt ganz Europa, auf die Stacheldrahtgrenze quer durch Berlin zu starren, ln Wirklichkeit ist dieser Raum nur ein — allerdings sehr wichtiger — Abschnitt einer Frontlinie, die sich über den ganzen Erdball zieht und für die der europazentrische Name „Eiserner Vorhang“ nicht mehr zutrifft. Das. was in diesen Tagen vor sich geht, ist eine politische Weltoffensive, deren Zielsetzung man verkennen würde, wenn man sie mit militärischem Geländegewinn oder Eroberung von Provinzen gleichsetzte. Däs, worauf es dem Kommunismus ankommt, ist ein vor aller Welt sichtbarer Nachweis der Schwäche des Westens, vor allem der heutigen Vormacht dieser Hemisphäre, der USA. Nicht die große kommunistische Barrikadenrevolution mit der Hissung der roten Fahne steht auf der Tagesordnung: Aber die Völker der Erde, besonders die kleineren und anlehnungsbedürftigen unter ihnen, sollen drastisch vor Augen geführt bekommen, daß sie im Ernstfall nicht mit der wirksamen Hilfe des auf dem Papier riesengroßen Bündnissystems rechnen können. Und gerade die Millionen unter ihnen, die keinesfalls Kommunisten sind noch jemals sein wollen, sollen von dem Gefühl erfüllt werden, daß es nun langsam Zeit wird, sich umzuorientieren.

Blitzlichtartig werden in den Meldungen der internationalen Agenturen eines einzigen Tages die Punkte sichtbar, an denen sich dieser moralisch akzentuierte Kampf verdichtet: Algerien und Angola, Brasilien und die Karibische See mit Guayana und der Dominikanischen Republik, Südvietnam und Kuweit. Aber auch der Abstimmungssaal der UNO, der Dschungel von Laos, die Wahlversammlung in der Bundesrepublik, das spanische Grenzgelände an den Pyrenäen, der frühherbstliche Jagdsitz des britischen Premiers sind Szenenräume, über die der Scheinwerfer huschen müßte. Falsch und kurzsichtig wäre es, hier überall kommunistische Agenten oder gar Superdrahtzieher aus dem Kreml am Werk zu sehen. Die internationalen Krisenentwicklungen des westlichen Bündnissystems sind nur in den seltensten Fällen ferngesteuert. Aber sie werden von Moskau aus beobachtet und in ein großes System eingeordnet. Die Faszination des Marxismus-Leninismus liegt darin, dies alles als „unausweichlich“, „historisch“ unvermeidlich hinzustellen und die Willenskräfte zu lähmen, die solcher Krisen Herr werden könnten.

Der Fehler der freien Welt liegt darin, alles außerhalb ihrer Grenzen als eine monolithische Einheit zu betrachten und die Hoffnung bestenfalls auf die „Kremlastrologie“ oder den nahe bevorstehenden russisch-chinesischen Konflikt zu setzen. Was not täte, wäre eine ebenso bewegliche politische Strategie, ein objektives, von eigenen Wunschbildern unbeeinflußtes Studium der keineswegs krisenfreien Bewegungen innerhalb des kommunistischen Systems und die Fähigkeit, hier ebenso schnell und elastisch zu reagieren, wie dies der Kreml tut So aber jagt der Kommunismus seine Gegner von Schlachtfeld zu Schlachtfeld und bestimmt allein Zeitpunkt und Art der Auseinandersetzung.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung