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Die öffentlidikeit und die Würde des Menschen

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Dem Schreiber fällt es schwer, das Thema, das ihm aufgegeben, zu behandeln. Das gesteht er ein. Der Titel und die Untertitel weisen in die Gegend, wo die Schwierigkeiten sich türmen. Das Fragezeichen verrät, daß das Problem sehen, es lösen hilft, daß sich aber kaum eine Aussicht auf eine eindeutige Lösung öffnet. Die Behandlung des Themas fällt dem Schreiber schwer, weil er immerzu die Öffentlichkeit als das Prinzip des demokratischen Rechtsstaates lehrt; weil er dafürhält, daß die Medien der öffentlichen Meinung: die Presse, das Fernsehen, der Rundfunk, eine öffentliche Aufgabe erfüllen; weil er schließlich fast ein Vierteljahrhundert den Hauptberuf eines Journalisten besorgt hat Wer sich die Mühe gibt, dem Gedankengang zu folgen, wird an der Beschwerlichkeit des Weges die Leidenschaft des Ringens ermessen. — Und noch eines: Die vielen Wenn und Aber, die sich dem Leser aufdrängen werden, kennt der Schreiber gut; es ist unmöglich, sie alle in einem Aufsatz abzuwehren. Daher die häufigen Verweisungen auf das fremde und eigene Schrifttum. Auf dem ersten Teil der Strecke wird versucht, das allgemeine Problem der Öffentlichkeit zu umreißen. Die zweite Teilstrecke gehört der Betrachtung über die Zulässigkeit des Seh- und Hörfunks im Gerichtssaal.

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Dem Schreiber fällt es schwer, das Thema, das ihm aufgegeben, zu behandeln. Das gesteht er ein. Der Titel und die Untertitel weisen in die Gegend, wo die Schwierigkeiten sich türmen. Das Fragezeichen verrät, daß das Problem sehen, es lösen hilft, daß sich aber kaum eine Aussicht auf eine eindeutige Lösung öffnet. Die Behandlung des Themas fällt dem Schreiber schwer, weil er immerzu die Öffentlichkeit als das Prinzip des demokratischen Rechtsstaates lehrt; weil er dafürhält, daß die Medien der öffentlichen Meinung: die Presse, das Fernsehen, der Rundfunk, eine öffentliche Aufgabe erfüllen; weil er schließlich fast ein Vierteljahrhundert den Hauptberuf eines Journalisten besorgt hat Wer sich die Mühe gibt, dem Gedankengang zu folgen, wird an der Beschwerlichkeit des Weges die Leidenschaft des Ringens ermessen. — Und noch eines: Die vielen Wenn und Aber, die sich dem Leser aufdrängen werden, kennt der Schreiber gut; es ist unmöglich, sie alle in einem Aufsatz abzuwehren. Daher die häufigen Verweisungen auf das fremde und eigene Schrifttum. Auf dem ersten Teil der Strecke wird versucht, das allgemeine Problem der Öffentlichkeit zu umreißen. Die zweite Teilstrecke gehört der Betrachtung über die Zulässigkeit des Seh- und Hörfunks im Gerichtssaal.

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In einer Erzählung von Johannes Urzidil, die den Titel trägt: „Behelligungen eines Richters“, treffen einander Seine Ehren und der Sheriff im Walde. Der Sheriff sagt: „Ihre Vorliebe, Euer Ehren, für diese Stelle muß also doch einen eigenen Grund gehabt haben oder sagen wir: noch heute haben.“ Der Behelligte erwidert: „Ich darf doch wohl selbst entscheiden, was mir gefällt und wo ich anhalten möchte?“ Der Sheriff fällt ihm ins Wort: „Oh, selbstverständlich dürfen Sie das, Sir. Aber die privateste Entscheidung kann sich in eine Angelegenheit des öffentlichen Interesses verwandeln. Jemand kann mit einem Mädchen täglich spazierenfahren und auch sonst in jeder Art beisammen sein. Das ist zunächst eine Privatsache. Aber wenn die beiden in mein Office kommen und von mir getraut werden wollen, dann ist es eine öffentliche Angelegenheit, und dabei müssen Fragen gestellt werden.“ Etwas später bekräftigt der Richter: „Sie sprachen vorhin von der öffentlichen Seite des menschlichen Handelns. Und es ist wahr: im Grunde gibt es nichts, auch nicht das Privateste, das nicht auch eine öffentliche Seite hätte.“1

Die Staats- und Staatsrechtslehre des deutschen Sprachraumes beschäftigt sich wenig mit der Größe „Öffentlichkeit“, obwohl diese in den Stand ihrer Hauptprobleme aufgerückt ist. Einer der Gründe für das Ausweichen wird das Unvermögen sein, auch nur annähernd den Begriff zu bestimmen, woran nicht wissenschaftliches Versagen, sondern die Sache die Schuld trägt. Der Schreiber hat vor Jahren eine umfängliche Arbeit und jüngst eine kürzere vorgelegt; diese unter dem Titel: „Die Öffentlichkeit als Prinzip der Demokratie“ in der Festschrift für Adolf Arndt zum 65. Geburtstag, herausgegeben von H. Ehmke, C. Schmid, H. Scharoun (Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt 1969). Den ganzen Fragenfächer, der sich hinter der nämlichen Größe auftut, untersuchen Rudolf Smend, C. Schmitt und von den jüngeren Peter Häberle. Von der Philosophie und Gesell-schaftstheorie her kommt Jürgen Habermas mit dem Standardwerk „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (Neuwied/Berlin: Luchterhand 1962), das 1968 zum drittenmal aufgelegt worden ist, welches jedoch Häberle und der Schreiber kritisch betrachten.

Die Vieldeutigkeit des Wortsinns

Die Vieldeutigkeit der Sache und des Wortes, das sie anzeigt, verschuldet deren schwere wissenschaftliche Zugänglichkeit', beispielshalber: öffentliches Wohl, Interesse, Gut, Recht; öffentliche Gewalt, Hand; öffentliche Meinung, öffentliche Aufgabe der Medien der öffentlichen Meinung, Öffentlichkeit; öffentliche Wege, öffentlicher Park; die Öffentlichkeit des Parlaments, der Gerichtsverfahren; öffentliche Akteneinsicht; die Veröffentlichung als Kundmachung einer Rechtsnorm.

Geben wir einige wenige Grundbestimmungen an, die allen oder doch den meisten soeben aufgezählten Gebrauchsarten des Wortes zu-, gründe liegen: offen, kund, wahr,' allgemein zugänglich; politisch, rechtsstaatlich, freistaatlich, sozial-staatlich, rechtlich überhaupt; demokratisch, was auf Zustimmung (Konsens) aller oder der Mehrheit stößt, was auf deren Billigung, Genehmigung, Beifall rechnen kann; was vernünftig ist und überzeugt; kontrollierbar, kritisierbar, kontrolliert, kritisiert; aber auch staatsbezogen im Sinne von obrigkeitlich und Staatsraison. Das Erst- und das Letztgenannte stehen sogar zueinander in einem Gegensatz von der Art des Widerspruches zwischen Sein und Schein.

Wir haben schon die Stelle passiert, wo der Weg des Wortsinnes sich gegabelt hat und stehen auf der einen wichtigen Abzweigung: Öffentlichkeit bedeutet hier den Unterschied von Geheimhaltung, Arkanpraxis, von Verhüllung, Verdeckung. Die Staatsraison gebietet das Verbergen. Verbergen erfüllt den ontologischen Sinn der Unwahrheit (Heidegger: Wahrheit = Entborgenheit). Das Prinzip der Demokratie ist die Öffentlichkeit; das der Autokratie das Arkanum. ■

Allein, dieser spezifische Sinn, der dem öffentlichen einwohnt, erscheint verhältnismäßig spät in der politi-

sehen Geschichte des okzidentalen Kulturkreises: im 16. Jahrhundert mit und nach Machiavelli. Vorher war alles Staatliche von vornherein aufs öffentliche (to koinon, publicum, commune) im Sinne des Rechtlichen angelegt gewesen (res publica), „politisch“ und „öffentlich“ und „rechtlich“ galten unlöslich als Synonyma. Bei Dante lesen wir noch: quicumque bonum rei publicae in-tendit, finem iuris intendit (de mon. II 5, 1—19). Albertus Magnus zeigt, worauf es beim öffentlichen als dem Politischen ankommt: omnis politia est ad commune bonum et nulla ad

privatum (II Sent. XLIV 1, 2). Das Wort füllt sich mit Inhalt kraft des folgenden Gegensatzes auf: politikös

— idios, politeüo — idioteüo, polites

— idiötes, also politisch-privat. Mit aller Schärfe sei betont, daß dem öffentlichen das Vollsein eignet, die-weilen das Privatsein als eine mindere Daseinsioeise gilt! (Im heutigen Wortgebrauch „Idiot“ klingt die Deflzienz des Seinsmodus nach.) Den Vorrang des öffentlichen übernimmt Hegel von Aristoteles: „Die öffentliche Meinung enthält daher in sich die ewigen substantiellen Prinzipien der Gerechtigkeit, den wahrhaften Inhalt und das Resultat der ganzen Verfassung, Gesetzgebung und des allgemeinen Zustandes überhaupt, in Form des gesunden Menschenverstandes, als der durch alle in Gestalt von Vorurteilen hindurchgehenden sittlichen Grundlagen, sowie die wahrhaften Bedürfnisse und richtigen Tendenzen der Wirklichkeit“ (Rechtsphilosophie, 317).

Die Aufwertung des Privaten durch das Christentum

Hegel ist aber zugleich der Denker, der es als unvergängliche Leistung des Christentums bezeichnet, das Prinzip der Subjektivität im Sinne des Privaten entdeckt und in einen Stand gehoben zu haben, der dem des öffentlichen und Objektiven gleicht. Seit dem Christentum kennt man die Heiligkeit der Intimsphäre, weiß man, warum der einzelne als Privater so schwer wiegt, obschon sich die Kirche als solche allezeit als öffentliche Institution, nicht als Privatzirkel versteht. Fassen wir das Ergebnis des zurückgelegten Gedankenweges in die Feststellung zusammen: Wir nähern uns dem Wesen des öffentlichen einmal durch den Gegensatz zum Privaten, einmal durch den zum Geheimen.

Geheimmaxime pervertiert die Politik

Wenn der Altmeister der deutschen Staatslehre Rudolf Smend schreibt: „... mit der Öffentlichkeit des politischen Lebens steht und fällt sein heutiger abendländischer Typus, jede Infragestellung der politischen Öffentlichkeit stellt seinen Träger und damit ihn selbst in Frage3“, dann bezieht er sich auf das Prinzip der Öffentlichkeit als Gegensatz zur Arkanmaxime. Das Volk und der einzelne können am Zustandekommen der Staatsakte nur unter der

Bedingung mitwirken, wie dies das Baugesetz der Demokratie gebietet, daß grundsätzlich weder die Vorbereitung noch das Setzen der Staatsakte (Gesetze, Urteile, Bescheide) unter Ausschluß der Öffentlichkeit geschehen. Darin eingefaltet liegt das Prinzip der Kontrolle: In der Demokratie soll grundsätzlich kein Staatsakt zustande kommen können, dessen Werden unter keiner Kontrolle steht.

Gilt in der demokratischen Republik Österreich das Prinzip der Öffentlichkeit als materialer Bestandteil der Grundnorm der Verfassung? —

Grundnorm ist im Sinne des Art. 44 Abs. 2 B.-VG. das Prinzip der Öffentlichkeit, zunächst im Sinne der Öffentlichkeit des demokratischen Prozesses gemeint. So ist es, obwohl die österreichische Bundesverfassung es an keiner Stelle als allgemeinen Grundsatz von Rechts wegen verkündet. Als besonderes Verfahrenserfordernis kommt es in der österreichischen Bundesverfassung auffallend häufig vor: Art. 32 (1); 33, 37 (3); 38; 39 (3); 90 (1); 96 (2); 117 (4): 20 (2); 49; 98 (1); 139 (2); 140 (4); 89 (1). Die Bundesverfassung verwirklicht das demokratische Prinzip nicht bloß auf der Stufe der Gesetzgebung (legis latio), sondern auch auf der Stufe der Gesetzesvollziehung (legis executio), die entweder Verwaltung oder Gerichtsbarkeit ist. Folgerichtig verlangt sie die Öffentlichkeit sowohl des legislativen Prozesses als auch des Gerichtsprozesses, mittelbar zudem die Öffentlichkeit des Regie-rungs- und'des nachgeordneten Verwaltungsverfahrens (Art. 20/2). Der Schreiber möchte Art. 91 (1) B.-VG. in die Angabe einschlägiger Verfassungsbestimmungen aufnehmen. Er lautet: „Daß Volk hat an der Rechtsprechung mitzuwirken.“ Die Geschworenen- und Schöffengerichte sind nicht die einzige Mitwirküngs-form. Kraft des Öffentlichkeitsprinzips im Gerichtsverfahren wirkt das Volk als Kontrollinstanz mittelbar an der Rechtsprechung mit, „Volk“ hier nicht als Organ, sondern in seiner unorganisierten Präsenz als Öffentlichkeit. Alles, was im demokratischen Frei- und Rechtsstaat geschieht, hat grundsätzlich öffentlich, unter Ausschluß der Geheimpraxis, bei Kontrolle der öffentlichen Meinung zu geschehen. Alle Normen der- Verfassung und der ihr nachgeordneten, rangniederen

Rechtsstufen sind grundsätzlich unter der Beobachtung des Öffentlichkeitsprinzips zu setzen und zu vollziehen. Grundsätzlich, das heißt: unter Einschluß von Ausnahmen und unter Beobachtung der sogenannten immanenten Schranken (limite im-plicito).

Geheimgerichte sind Scheingerichte

Auf der zweiten Wegstrecke wenden wir uns ganz dem Öffentlichkeitsprinzip im Gerichtsverfahren zu. Die Ideen- und Institutionengeschichte wie die Theorie der Gerichtsbarkeit belehren uns: Wie kein

Typus des Werdeganges des Rechtes sonst, ist das Gerichtsverfahren auf interessierte kontrollierende Öffentlichkeit angelegt; wo sie fehlt, sitzen Scheinrichter zu Gericht. Geheimgerichte sind Scheingerichte4. Die klassische griechische Tragödie, die auf das Schema des Gerichtsverfahrens baut, vollzieht sich in einem-fort in Anwesenheit und unter Mitwirkung des Chores, das ist des Volkes als Öffentlichkeit. Was es für eine Bewandtnis mit dem unsichtbaren Prozeß hat, den unsichtbare Richter leiten, bringt uns Kafka zum Bewußtsein.

Bei den folgenden Überlegungen müssen wir sowohl den Gegensatz zum Geheimen wie den zum Privaten im Auge behalten.

Zweierlei Sinn der Öffentlichkeit

Die Öffentlichkeitsmaxime birgt zweierlei Sinn: einmal Kontrolle des Verfahrens zum Schutze des Prozeß-subjekts, des Menschen, über den Gericht gehalten wird, oder der vor Gericht um sein Recht streitet; zum anderen Kontrolle als Mittel der Mitwirkung des Volkes an der Staatsgewalt, hier der Rechtsprechung (Art. 91/1 B.-VG.). Die Folgen der zwei genannten Aspekte ein und derselben Sache können zunächst auseinanderstreben. Sucht man die im Untertitel dieses Aufsatzes gesetzten Fragen unter dem demokratischen, dem zweiten Gesichtspunkt zu beantworten, wird man fürs erste und grundsätzlich sagen müssen: Das Volk und der einzelne haben ein Recht auf Information und auf einen Nachrichtenstrom, der nicht abreißt (Art. 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention, die in Österreich Verfassungsrang genießt); ist dieses Recht befriedigt, können das Volk und der einzelne das ihnen in einer demokratischen Republik zustehende Kontrollrecht ausüben (Art. 1 B.-VG.). Je umfassender, genauer, unmittelbarer die Information, desto besser sind die Bedingungen der Möglichkeit dafür erfüllt, daß der von der Verfassung und vom Wiener Staatsvertrag vorgeschriebene demokratische Baustil unseres Staates Österreich sich vollende. Wir schließen daraus: Fernsehen und Rundfunk gehören, neben der Presse und dem Publikum als begrenzter Öffentlichkeit, in den Gerichtssaal!

Das absolute Prinzip einer jeden Gesellschaft

Sucht man die im Untertitel dieses Aufsatzes gesetzten Fragen unter dem Gesichtspunkt der Würde des Menschen zu beantworten, vollends, wo ein Angeklagter oder Beschuldigter vor den Schranken steht, kann es durchaus sein, daß Fernseh- und Rundfunkübertragungen wie Bildberichterstattung durch Pressephotographen sein Recht auf volles Personsein, wie 16 ABGB und Art. 8 EMRK es ihm anerkennen, erheblich, füglich von Rechts wegen unzulässig, schmälern, gar plattdrücken. Die althergebrachte begrenzte Ge-richtssaalöffentlichkeit und die übliche Presseberichtreportage vermögen niemals, in demselben Maß die Persönlichkeit zu kränken, gar zu vernichten.

Ohne Rücksicht darauf, ob und wann solch ein Fall sich ereignet, gehen wir von seiner Möglichkeit aus und behaupten: Tritt er ein, dann prallen das demokratische Prinzip und das Prinzip der Menschenwürde aufeinander. Ohne die Annahme einer Rangordnung unter den Prinzipien, die ein Gemeinwesen tragen, können wir den Konflikt nicht lösen. Allein, Österreichs Rechtstradition und -gegenwart anerkennen stillschweigend die Würde des Menschen, und zwar des jeweiligen Einzelmenschen, als oberstes, absolutes normatives Prinzip. Mit anderen Worten: sollte es einmal vorkommen, daß die Würde eines Menschen vernichtet wird, wenn das demokratische Baugesetz befolgt wird, dann, so meint der Schreiber dieser Zeilen, wird dieses jenem zu weichen haben; denn die Derdbkratie ist um der Entfaltung und Sicherung der Menschenwürde da, nicht, umgekehrt5. Die Österreichische Juristenkommission hat sich aus Anlaß des sogenannten Pornographieprozesses in diesem Sinne, zugunsten der Mädchen, die vor Gericht standen, geäußert. Die Würde ausnahms- und unterschiedslos aller Menschen wiegt gleich!

Keine grenzenlose Öffentlichkeit unerläßlich

Die nämliche Kollision wird freilich die herkömmliche, begrenzte Öffentlichkeit keineswegs verdrängen dürfen: Sie ist unabdingbar, aber mit

ihr ist die Bedingung erfüllt. Die Sache verhält sich wie mit den Gesetzen: ihre gehörige Kundmachung im ^ Gesetzblatt ermöglicht jedermann die Rechtskenntnis; niemand kann verlangen, daß ihm das Gesetzblatt ins Haus, zum Frühstück, wie sein Leibblatt, zugestellt werden muß, ehe man ihm Unkenntnis des Gesetzes vorhält6.

Überhaupt, als Grundsatz gilt: Mit der Öffnung der Möglichkeit, mit der Sicherung der Zugänglichkeit ist dem Öffentlichkeitsprinzip entsprochen. Der an der Kontrolle Interessierte muß für seine Teilnahme etwas tun, etwa früh aufstehen, mit der Straßenbahn oder dem Obus zum Gericht fahren, sich vor dem Verhandlungssaal anstellen usw. — Soviel zum Prinzip.

Im Zweifel für die beschränkte Öffentlichkeit

Allein, wie die eingangs angeführte Erzählung von Urzidü andeutet, jede Sache kann sich unversehens derart auswachsen, daß das Interesse der denkbar breitesten Öffentlichkeit, die nur mit Fernsehen, Rundfunk und Bildberichterstattung herzustellen ist, Rechtmäßigkeit erwirbt: In einem solchen Fall werden alle Medien der öffentlichen Meinung in Bewegung zu setzen sein. Bisweilen wird man das vor Beginn eines Prozesses bestimmen können, hie und da während der Verhandlung. Allgemeingültige Formeln wird niemand aufzustellen imstande sein. Derlei wird von Fall zu Fall klar. Die Meinung des Schreibers geht dahin: Die Vermutung streitet immer für die Öffentlichkeit und gegen deren Ausschluß, jedoch für die begrenzte Öffentlichkeit; hingegen streitet, bis zum Gegenbeweis, die Vermutung wider die unbegrenzte, die Fernseh-, Rundfunk- und Bild-öffentlichkeit.

Gründe für die Unterscheidung

Man wird fragen, woher hofl der Schreiber den Grund für eine derartige Unterscheidung. Die Begründung im einzelnen zu geben, übersteigt das Vermögen der Vertreter eines Faches oder einer Fächergruppe. Dazu sind nicht die Juristen allein berufen; vielmehr sind dazu Mediziner, Psychologen, Verhaltensforscher, MoralphilosQphen zu hören. Den Juristen werden eigene Überlegungen leiten. Zunäcnst die natürliche Erfahrung, daß es dem Menschen nicht gleich sein wird, ob der Arzt, seine Assistenten und die Krankenschwestern ihn nackt sehen, oder ob er vor Millionen Augen nackt steht oder liegt. „Nackt“ wird

hier eher im übertragenen Sinn gebraucht. Es wird mir kaum gleich sein, ob die Richter, die Anwälte, einige Gerichtssaalkibitze und Journalisten Zeugen meiner Verlegenheit, meines Mienenspiels, meines Stotterns sind — oder ein Drittel Österreichs. Gewiß, es gibt Menschen, denen das einerlei erscheint und die sich nicht im geringsten in ihrer Würde verletzt fühlen; im Gegenteil, Menschen mit einem Herostratos-Komplex, die die Öffentlichkeit aus vollen Zügen genießen, die es gar bewußt so, angestellt haben, daß sie vor Gericht und solchermaßen ins Fernsehen kommen.

Die erschwerte Wahrheitsfindung

Der Sinn des Gerichtsprozesses ist für gewöhnlich und in erster Linie, die Wahrheit, den Sachverhalt zu finden. Das Wahrheitsinteresse lenkt das Verfahren. (Die Frage nach dem Unterschied zwischen „formeller“ und „materieller“ Wahrheit setzen wir in Klammern!) Und das, was wir die Wahrheit und die Wahrhaftigkeit nennen, leidet zweifellos unter dem unmittelbaren Einfluß der Anwesenheit der Fernseh-, Funk- und Bildöffentlichkeit. Man erwäge zudem, daß die Wahrheitssuche selbst die Medien der öffentlichen Meinung determiniert; es wird ja angenommen, daß die Wahrheit der Inhalt der Information sei! Es mag so weit kommen, daß die Medien der öffentlichen Meinung, wenn sie durch ihre Präsenz im Gerichtssaal in das Leben der Menschen eingreifen, der Menschen, die als Zeugen, Angeklagte, Beschuldigte, Parteien vor Gericht treten — daß die Medien ihr eigenes Leitprinzip, die Wahrheit, verbiegen helfen, sohin mit (sich selbst in Widerspruch geraten. Kaum sonst an irgend einem Ort ereignet sich das ganze Drama einer menschlichen Existenz so greifbar, anschaulich und faßlich wie im Gericht: Deshalb ist der Prozeß seit je das beliebteste Schema jeder Literaturgattung, von Werken der Weltliteratur angefangen bis zum Kriminal-Schundroman. Und ausgerechnet an diesem Zentrum der Intimität soll sich immer die volle Publizität entfalten?

Die bedrohte Unabhängigkeit der Rechtsprechung

Ebenso schwer wiegt der Gedanke, daß die Unabhängigkeit der Rechtsprechung, die von Menschen besorgt wird, bei unbeschränkter Öffentlichkeit Schaden nehmen kann. Den Richter mögen plötzlich mehr die Öffentlichkeit und ihre Reaktionen, die Kontrolle des Volkes, als die Wahrheit und die Menschen zu inter-

essieren beginnen, über die er zu Gericht sitzt und deren Schicksal seinem Urteil anvertraut ist. Die Gejahr — nicht das Faktum — darf niemand von der Hand weisen.

Die Risken, die die Gesellschaft zu Lasten des Menschen, ihres Mitgliedes, eingeht, sind groß. Die Vorteile, die ihr die eigene Anwesenheit durch unbeschränkte Öffentlichkeit bietet, vermögen wohl kaum den möglichen Verlust an Menschenwürde aufzuwiegen.

Um es am Ende zu wiederholen: Keine der aufgezählten Gefahren muß unweigerlich jedesmal auftreten, und die Öffentlichkeit gilt unbestrittenermaßen als Prinzip der Demokratie.

Es ergibt sich, daß die Entscheidung über die Zulässigkeit der Fernseh-, Rundfunk- und Bildöffentlichkeit in jedem Verfahren aufs neue zu treffen sein wird. Das Gericht soll entscheiden, jedoch immer mit Zustimmung des Betroffenen, niemals gegen seinen Willen; es soll sogar gegen das Verlangen eines Betroffenen die unbeschränkte Öffentlichkeit verbieten können: im Interesse der Menschenwürde, der Wahrheitsfindung und der Unabhängigkeit der Rechtsprechung.

1 Im Band: „Bist du es, Ronald?“, Zürich! Stuttgart: Artemis 1968, S. 101 ff. (141 ff.).

1 Was die mannigfaltigen Einzelheiten anlangt, sei verwiesen auf H äb erle, Öffentlichkeit und Verfassung, Bemerkungen zur 3. Auflage von J. Habermas' Strukturwandel der Öffentlichkeit. Zeitschrift für Politik XVI (1969), S. 273—287; weiter auf seine Freiburger Habilitationsschrift: öffentliches Interesse v als juristisches Problem, 1968; Mar Sic, Öffentlichkeit als staatsrechtlicher Begriff, in: Richter und Journalisten, Wien 1965, S. 153—228; dazu den oben angeführten Beitrag zur Arndt-Festschrift und das bei Häberle und Marcic angegebene Schrifttum.

* Smend R., Zum Problem des öffentlichen und der Öffentlichkeit, Beitrag zur Gedächtnisschrift für Walter Jellinek, München; Isar-Verlag 1955, S. 16.

4 Vgl. Mariii, Rechtsphilosophie. Eine Einführung. Freiburg i. Br.: Rombach 1969, 16, S. 237 ff.; denselben, Der Richter in der Demokratie, JBl. (=* Jwriirische Blätter, Wien), 1968, S. 393 ff./tätfW.

* Marcic, Rechtsphilosophie, 18, S. 262 ff.

* Stehe dazu seit neuem M ayer-M aly Theo, Rechtskenntnis und Gesetzesflut, Salzburg-München: A. Pustet, 1969; vgl. Marcic, a. a. O., insbesondere 8 VII, S. 159.

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