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Es geht immer brutaler zu Kriminalität wird allgegenwärtig, viele Delikte bleiben den Behörden unbekannt, Übertretungen werden zum Massenphänomen...

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Es geht immer brutaler zu Kriminalität wird allgegenwärtig, viele Delikte bleiben den Behörden unbekannt, Übertretungen werden zum Massenphänomen...

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DIEFURCHE: Die Kriminalität nimmt zu. Warum?

FRANZ CSÄSZÄR: Diese Zunahme fällt nicht vom Himmel. Dahinter stehen tiefgreifende Veränderungen in unserer Gesellschaft, etwa die einfache Tatsache, daß es mehr Dinge gibt, die man stehlen, veruntreuen kann. Der bargeldlose Zahlungsverkehr eröffnet neue Möglichkeiten des Mißbrauchs. Diesen vergrößerten Möglichkeiten, ein Delikt zu begehen, steht die gestiegene Bereitschaft der Menschen, von den Möglichkeiten Gebrauch zu machen, gegenüber. Niemand wird gezwungen einzubrechen, eine Zeitung zu stehlen. Das macht man heute halt so.

DIEFURCHE: Sind die Maßstäbe verloren gegangen?

CSÄSZÄR: Ich denke ja. Der einzelne empfindet immer weniger Verantwortung gegenüber einer anonymen Allgemeinheit. Vieles, was früher einen hohen gesellschaftlichen Wert dargestellt hat, etwa das der Allgemeinheit Dienen, ist zum Teil in Verruf geraten. Heute ist die Selbstverwirklichung das große Schlagwort. Viele würden einen persönlich Bekannten nicht schädigen wollen. Aber gegenüber dem Finanzministerium, dem Staat, einer Versicherung hat man keine solche Hemmung.

DIEFURCHE: Sind Jugendliche für solches Fehlverhalten anfälliger?

CSÄSZÄR: Ich habe den Eindruck, dieses Verhalten ist in allen Altersschichten anzutreffen. Allerdings ist bekannt, daß die Neigung zu Rechtsbrüchen altersabhängig ist: ein rasanter Anstieg bis zum Alter von etwa 20 Jahren. Da ist Kriminalität in Form von leichten Rechtsübertretungen ein allgegenwärtiges Phänomen. Die meisten dieser Übertretungen bleiben der Strafverfolgung unbekannt. Und das dürfte sozial sogar sinnvoll sein. Denn die meisten dieser jungen Menschen „erfangen“ sich wieder. Aber auch bei Erwachsenen gibt es eine gestiegene Kriminalität.

DIEFURCHE: Hat die Gewalttätigkeit gegen einzelne auch zugenommen? CSÄSZÄR: Wir wissen beispielsweise, daß die Raubkriminalität, ein klassisches Delikt, ziemlich stark zugenommen hat, obwohl sie immer noch eher selten zu beobachten ist. Hier haben wir einen Gradmesser für die Sicherheit des einzelnen. Man darf daneben aber auch ein anderes weites Feld der Gewaltkriminalität nicht übersehen: die Gewalt in der Familie. Nach allem, was wir Csäszär: „Offensichtlich ist der Mensch darauf angelegt... wissen, gibt es sehr viel Gewalt in persönlichen Nahebeziehungen. Vor allem sind es Frauen und Kinder, die als Opfer betroffen sind. Hier geschieht extrem viel im Dunkelbereich. Ob es hier langfristig einen Anstieg gibt, kann ich nicht sagen.

DIEFURCHE: Warum diese Gewalttätigkeit?

CSÄSZÄR: Offensichtlich sind wir darauf angelegt, ein hohes Interesse an Gewalt zu haben. Schauen Sie doch nur, was in den Kinos, im Fernsehen, in den Videos angeboten wird. Da geht doch nichts ohne Brutalitäten und Exzesse jeder Art. Heute wird das alles in Großaufnahme, Zeitlupe und mit viel Farbe gezeigt werden. Langfristig verdichtet das eine Atmosphäre der Gewalt.

DIEFURCHE: Regt das zur Gewaltanwendung an?

CSÄSZÄR: Wenn auch nicht jeder zu gewalttätigem Tun angeregt wird, so haben diese Darstellung doch dazu beigetragen, Gewalttätigkeit zu banalisieren. Ich kann mir nicht vorstellen, daß dies nicht irgendwie äb- färbt. Jedenfalls ist zunehmende Gewalt bei den Straftaten zu beobachten. Wurde früher ein Einbrecher gefangen, dann hat er eben Pech gehabt, wurde geschnappt und war fast nie bewaffnet. Jetzt geschieht es häufiger, daß etwa ein Ladendieb die Kassiererin niederschlägt, wenn er angehalten wird — oder mit einem Messer bewaffnet auf jemanden losgeht.

DIEFURCHE:.Gibt es besondere Merkmale der Wirtschafiskriminalität?

CSÄSZÄR: Sie fällt stark ins Gewicht. Das ist ein Massenphänomen, dennwenn man billig einkauft, spart man etwas, wenn man keine Steuern zahlt, bleibt einem mehr Geld. Die Wirtschaftskriminalität geht an die finanzielle Substanz unseres Gemeinwesens. Schätzungen gehen davon aus, daß die Steuern insgesamt um ein Viertel gesenkt werden könnten, wenn alle allen Steuerforderungen nachkämen. Oder: Denken Sie an das Kopieren von Computer- Programmen.

DIEFURCHE: Im internationalen Vergleich schneidet Österreich relativ gut ab. Warum?

CSÄSZÄR: Österreich schneidet international gesehen noch immer günstig ab. Das hängt damit zusammen, daß es die längste Zeit ein West-Ost- Gefälle der Kriminalität gab. Eine Reihe von Kriminalitätsformen traten zunächst in westlichen Ländern (USA, Großbritannien, Skandinavien...) auf und gelangten erst verzögert und abgeschwächt zu uns: Banküberfälle, Drogenkonsum, Fußballkrawalle... Wir hatten also eine Vorwarnzeit und einen milderen Verlauf. Weiters haben wir die längste Zeit kein massives Ausländerproblem gehabt. In Deutschland, Frankreich oder Großbritannien ist es viel schärfer ausgeprägt. Auch die geographische Randlage scheint eine Rolle gespielt zu haben. In den letzten Jahren ist im Gefolge der Ostöffnung eine Verschlechterung eingetreten. Es besteht die Gefahr, daß organisierte Kriminalitätsformen auf Österreich übergreifen. Jedenfalls geht es uns noch immer herrlich im Vergleich zu den östlichen Nachbarn, wo sich die organisierte Kriminalität eingerichtet hat.

DIEFURCHE: Ist Österreichs Exekutive besonders leistungsfähig?

CSÄSZÄR: Das läßt sich schwer sagen. In unserem kleinen Land gab es bisher jedenfalls den enormen Vorteil großer Überschaubarkeit. Die wachsende Mobilität begünstigt aber auch die Kriminalität. Heute kann man Täter weitgehend unbemerkt quer durch den Kontinent befördern. Man kann Gewaltdelikte bis zum Mord länderübergreifend organisieren. Da werden Leute irgendwo in Ruhestellung an einen unanfälligen Arbeitsplatz geschickt. Dann bekommt er seinen Auftrag, führt ihn aus und verschwindet, ohne jemals mit der Tat in Beziehung gebracht werden zu können. Das verringert die Möglichkeiten der Verbrechensaufklärung erheblich. Früher hatten Polizei und Gendarmerie im großen und ganzen einen Überblick über das, was in ihrem örtlichen Zuständigkeitsbereich los war.

DIEFURCHE: Wird die EU da eher eine Verschlechterung bringen?

CSÄSZÄR: Wir haben schon seit einiger Zeit - besonders im Bereich der Wirtschaft - eine gesamteuropäische Kriminalität. Die EU wird da neue Möglichkeiten eröffnen. In dieser Hinsicht bin ich eher pessimistisch.

DIEFURCHE: Können Sie etwas zum Thema Umweltkriminalität sagen? CSÄSZÄR: Sie ist eine weitere Schattenseite unserer hochtechnischen Zivilisation. Im Bereich der Entsorgung von Sondermüll hat sich schon die organisierte Kriminalität eingerichtet. Allerdings ist auch in dieser Hinsicht Österreich relativ gut dran. Ganz allgemein aber kann man sagen, daß auf diesem Gebiet eine breite Palette von Übertretungen stattfindet. Da stellt sich die Frage, ob man überhaupt sinnvoller Weise von Kriminalität sprechen sollte.

DIEFURCHE: Was meinen Sie damit? CSÄSZÄR: Jemanden niederzuschlagen, eine Auslage einzuhauen — da ist es ziemlich klar, von Kriminalität zu sprechen. Je weniger greifbar das schädigende Geschehen jedoch ist, umso mehr verflüchtigt sich das Unrechtsbewußtsein. Dann wird es fraglich, ob man den Begriff Kriminalität und das Instrument des Strafrechts überhaupt sinnvoller Weiseanwenden soll. Wir sehen gerade auf dem Umweltsektor, daß das Strafrecht weitgehend überfordert ist. Am sichersten verurteilt werden Bauern, die zuviel Mist aufs Feld führen oder Dreck in einen Bach hineinlassen, was Fischsterben auslöst. Aber die Schäden, die durch Großereignisse entstehen oder durch allgemeines Fehlverhalten sind weitaus bedeutsamer. Sie können durch das Strafrecht nicht eingedämmt werden.

DIEFURCHE: Ist die Zahl der strafrechtlichen Normen gestiegen?

CSÄSZÄR: Langfristig wohl schon. Die wachsende Zahl der gesellschaftlichen Möglichkeiten hat auch die Gelegenheiten, sie zu mißbrauchen, erhöht. Da eine allgemeine Tendenz zur Regulierung aller Lebensbereiche besteht, ist auch das Strafrecht davon nicht verschont geblieben. Nach dem Ersten Weltkrieg mußte man den Entzug von Energie strafrechtlich einführen. Vorher konnten nur körperliche Dinge „gestohlen“ werden. In den letzten Jahren geschah ähnliches mit der durch Computer besonders wirkungsvoll zu verarbeitenden „Information“. Auch sie kann mißbraucht werden. Daher die Notwendigkeit eines strafrechtlichen Datenschutzes. Schließlich ist auch das Umweltstrafrecht unter diesem Aspekt zu sehen.

DIEFURCHE: Wenn immer mehr Strafen drohen, wirken sie dann überhaupt noch abschreckend^

CSÄSZÄR: In dem Maße, in dem Normübertretungen alltäglich, ja selbstverständlich werden, wird der Begriff Kriminalität sozial zurückgenommen. Ein Beispiel: Die Delikte im Verkehr sollen entkriminalisiert werden. Ähnliche Bemühungen gibt es bei Bagatell-Eigentumsdelikten. Mit dem Wort Kriminalität schwingt die Vorstellung mit, daß handfeste Rechtsgüter des einzelnen durch eine sozial auffällige Tat geschädigt werden. So ein Vorfall wird als etwas „Außerordentliches“ wahrgenommen. Auf Massendelikte oder die meist undurchschaubaren Vorgänge der Wirtschafts- und Umweltdelikte trifft das nicht zu. Dann besteht die Tendenz, solche Verhaltensweisen nicht mehr unter den Begriff Kriminalität zu stellen. Man beginnt dies eher als „Kosten“ für die Annehmlichkeiten unserer mobilen Konsumgesellschaft zu sehen.

Univ. Prof. Franz Csäszärist Professor für Kriminologie an der Universität Wien. Das Gespräch mit ihm führte Christof Gaspari

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