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Forderung nach der „Dritten Revolution“

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Hatten Lenin und Trotzki begriffen, was der Aufstand der Matrosen von Kronstadt gegen ihre Parteidiktatur bedeutete? Offenbar nein. Sie setzten die Lüge in die Welt, unter den Mitgliedern des Kronstädter Revolutionskomitees befänden sich weißgardistische Generäle und Priester — was die Matrosen mit einer Veröffentlichung der Mitgliederliste beantworteten —, und ließen Kronstadt stürmen. Dieses erste „Budapest“ des Sowjetkommunismus dauerte zehn Tage und forderte auf beiden Seiten Tausende von Opfern.

Zwar revidierte Lenin nun seine Wirtschaftspolitik mit Hilfe einer „Neuen ökonomischen Politik“ (NEP), um die katastrophale Wirtschaftslage zu bessern. Über Nacht wurden auf einigen Gebieten die Privatwirtschaft wieder hergestellt, der Markt für Konsumgüter wieder geöffnet, der freie Handel wieder eingeführt, die kleinen und mittleren Unternehmen wieder reprivatisiert usw. Aber diese — temporäre — ökonomische Liberalisierung, die Lenin gegen einen starken Widerstand in der Partei durchsetzen mußte, war ein Schwächezeichen. Sie bedeutete, daß man die Hoffnung auf eine baldige Weltrevolution aufgegeben hatte und sich auf einen langwierigen sozialistischen Aufbau-prozeß in Rußland selbst gefaßt machte. Dieser ökonomische Liberalisierung folgte jedoch nicht nur keine politische Liberalisierung, im Gegenteil: Lenin spannte die politischen Zügel erst recht an. Erst jetzt erhielten das Zentralkomitee und das Parteibüro jene beinahe absolute diktatorische Macht, die es dann nach dem Tode Lenins einem Stalin ermöglichte, alle innerparteiliche Opposition auszuschalten und sich

selbst als absoluten Diktator über Staat und Partei zu etablieren.

Das „Russische“ am Stalinismus

Um aber verstehen zu können, wieso es Stalin möglich war, gilt es, eine dritte Und letzte geschichtliche Tatsache zu erwähnen: das historische Phänomen „Rußland“. Oder anders ausgedrückt: es gilt, nach dem tradierten „Russischen“ im Stalinismus zu fragen. Dazu hat Ernst Bloch einmal das Nötige und Wichtige gesagt: in der Sowjetunion hätten wir das Phänomen, so meinte er, daß die sozialistische Revolution 1917 ausgebrochen sei in einem Land, „das keinerlei bürgerliche Revolution je hatte, in dem es nicht einmal eine Aufklärung, keine Reformation, vorher keine Renaissance und noch vorher nicht die denkerische Schulung einer Scholastik gegeben hatte. Es ist also ein Land, in dem ungebrochen Monarchie, Zarismus und ein völlig ungebrochenes Popentum den Ton angegeben hat. Wir haben nun ein Kosakisches im alten zaristischen Stil zweifellos in Rußland weiterleben, wobei statt der Heiligenbilder und statt des Bildes des Zaren die jeweiligen sozialistischen Führer auf den Fahnen herumgetragen werden und eine Art von Heiligenverehrung und religiösem Personenkult Platz hat, für den im Westen kaum so günstige Prämissen in der Vorgeschichte wären.“

In der Tat: wie hätte sich in einem rückständigen, halbasiatischen Lande, das weder durch die griechische noch durch die lateinische Kultur geprägt und das durch die Kirchenspaltung zwischen Rom und Byzanz vom Westen isoliert worden war, das keinen Humanismus, keine Aufklärung, keinen Liberalismus, keine bürgerliche Revolution kannte

und statt dessen durch den Geist eines Cäsaropapismus geprägt war, wie hätte sich in einem solchen Land ein demokratischer Sozialismus entwickeln können?

Das gilt es, bei der Beantwortung der Frage, wie es zum Stalinismus

kommen konnte, mitzuberücksichti-gen. Der Stalinismus war weder eine notwendige Folge der Oktoberrevolution, noch ist er dn der Theorie von Marx vorgesehen. Seine Wurzeln reichen wohl bis zum Einbruch der Tataren und deren 200jähriger Fremdherrschaft über Rußland zurück. Rußland hat den (Sowjet-) Marxismus mindestens ebensosehr geprägt wie es durch ihn geprägt wurde.

Die Entfremdung ist geblieben

War aber eine so überstürzte Zwangsindustrialisierunig, war vor allem eine so brutale Zwangskollektivierung der Landwirtschaft wirklich — von der Idee des Marxschen Sozialismus her gesehen — notwendig: War es notwendig, die Theorie des Marxismus in eine starre Funktionärsideologie zu verwandeln, die für Jahrzehnte das geistige Leben in der Sowjetunion terrorisierte (und selbst heute noch ihr Unwesen treibt)? War es notwendig, die grauenvollen Moskauer Schauprozesse aufzuziehen, von 139 Mitgliedern des Zentralkomitees 98 verhaften oder liquidieren zu lassen und Millionen Unschuldiger nach Sibirien zu deportieren oder umzubringen? War es notwendig, die Welt mit der einzigen Alternative zu erpressen — „entweder Stalinismus oder Faschismus, es gibt kein Drittes“ — und so entscheidend zum Sieg des Nationalsozialismus in Deutschland beizutragen?

Es ist in den letzten 200 Jahren in der politischen Theorie und Praxis und in der Geschichtsphilosophie mit kaum einem anderen Worte so viel Mißbrauch getrieben worden wie mit dem Worte „Notwendigkeit“. Auch heute noch ist es die bequemste Ausrede für die eigene politische Ratlosigkeit und Unverantwortliohkeit. Gewiß kann und muß man sagen, daß die russische Revolution — ganz ähnlich übrigens wie die französische — vielleicht nicht oder jedenfalls nicht in diesem Ausmaß terroristisch entartet wäre, hätte sie sich unter günstigeren, friedlicheren äußeren Umständen entwickeln können. Aber das heißt nicht, diesen Terror zu rechtfertigen. Vor allem kann die Schreckensherrschaft Stalins, kann die „Notwendigkeit des Stalinismus“, an die in zwangsneurotischer Weise sogar heute noch gewisse sich humanistisch nennende marxistische Intellektuelle glauben — ein Georg Lu-kdcs zum Beispiel — nicht mit dem Hinweis darauf gerechtfertigt werden, daß Stalin infolge der imperialistischen Interventionsdrohung gezwungen war, den Aufbau der Schwerindustrie zu forcieren und diesen durch die Abgaben der Bauern zu finanzieren, was eine Zwangskollektivierung notwendig gemacht habe. Selbst wenn man

diese These akzeptieren würde — müßten dann Millionen nach Sibirien geschickt oder umgebracht werden, um die Verwirklichung einer solchen Politik zu ermöglichen?

Noch sind die Moskauer Archive geschlossen, noch ist das letzte Wort

über den Stalinismus nicht gesprochen. Aber die bis heute bekannten Fakten scheinen mir vollauf zu genügen, um die These aufstellen zu können, daß bei allem Verständnis für die ungeheuer schwierige Lage der Sowjetunion der Terror Stalins

:eine Notwendigkeit, sondern eine ür den Sozialismus lebensgefähr-iche krankhafte Entartung war. Und venn man nun einwendet, unter Jtalin habe die Sowjetunion sich aus linem rückständigen Agrarland in iine hochindustrialisierte und „mo-lerne“ Weltmacht verwandelt, dann nuß man fragen, was denn das mit Sozialismus im Marxschen Sinne :iner Aufhebung der Entfremdung les Menschen zu tun habe? Der Ein-:elne in einem sozialistischen Staate — dies der bestimmende Eindruck, len ich von allen meinen Reisen in len „Osten“ und in die Sowjetunion lach Hause brachte — fühlt sich licht weniger entfremdet als der Einzelne bei uns. Gewiß hat inzwischen der entfremdende Druck von Staat und Partei stark nachgelassen, hat das politische System sich humanisiert, ist der Raum für das freie Wort und für demokratische Diskussionen stark erweitert worden, hat der Einzelne gegenüber dem Kollektiv erheblich an Bedeutung gewonnen, aber so groß und so erfreulich alle diese Wandlungen auch sein mögen — was ist das doch für eir geistig-politisches Armutszeugnis daß man ein halbes Jahrhunderl nach der Oktoberrevolution das sowjetische Volk noch immer nich für mündig erachtet, die Wahrhei' über die Oktoberrevolution, und dai heißt unter anderem die Wahrhei über die Rolle Trotzkis in ihr, zu erfahren und daß man noch heute ir der Weltstadt Moskau keine nichtkommunistische ausländische Zeitung kaufen kann?

Entfesselung der Energien

Im Grunde beginnt die Frage des Sozialismus sich für die Sowjetunion erst heute zu stellen. Ihre bisherigen Leistungen, vollbracht unter unsäglichen Opfern, sind grandios. Aber sie sind wesentlich technischer und kultureller Natur, nicht sozialpolitischer. Das primäre Ziel der sich auf Marx berufenden Oktoberrevolution aber war ein sozialpolitisches. Bisher ist dieses Ziel wesentlich nur in seinem negativen Teil verwirklicht worden — Beseitigung des Zarismus, Feudalismus, Kapitalismus —, aber noch nicht in seinem positiven. Um den heutigen autoritären Funktionärsstaat in einen sozialistischen Selbstverwaltungsstaat verwandeln zu können, müßte die Sowjetunion freilich das Geschäft der Bewältigung ihrer Vergangenheit weit energischer betreiben als dies bisher geschah. Mit einer bloßen Denunzierung des „Personenkults“ ist wenig gewonnen. Die Wurzeln des Stalinismus reichen viel tiefer. Schon Lenin hatte den Boden vorbereitet, auf dem der Stalinismus gedeihen konnte. Ja Marx selbst ist keineswegs unschuldig am Stalinismus, und nicht nur, weil er es versäumt hat, in seine Theorie Sicherungen gegen den Machtmißbrauch einzubauen. Was die Sowjetunion — und mit ihr die ganze Weltbewegung des „Sozialismus“— für das nächste halbe Jahrhundert braucht, soll es

eine Epoche des Sozialismus (ohne Anführungszeichen) werden, ist eine neue Theorie. Karl Marx bleibt ein großer Denker, dessen historische Bedeutung unbestritten ist und dem sein Platz in der Geistesgeschichte gebührt. Aber als sozial-politischer Wegweiser in die Zukunft ist er überholt. Der Marxismus — und gar der „Marxismus-Leninismus“ — ist 150 Jahre nach der Geburt von Marx und 50 Jahre nach der Oktoberrevolution, faßt man ihn unhistorisch und undialektisch als eine auch für unsere Gegenwart und Zukunft gültige und wegweisende Lehre auf, reaktionär geworden. Der Sozialismus muß sich etwas Neues einfallen lassen. Daß man vielerorts in „sozialistischen“ Landen, selbst in der Sowjetunion, an der Arbeit ist, dieses Neue zu schaffen, ist vielleicht eine weit überzeugendere Rechtfertigung der Oktoberrevolution als alle technischen Errungenschaften der Sowjetunion. Vielleicht wird es so eines Tages gelingen, zum Nutzen der ganzen Menschheit die noch bürokratisch gefesselten Energien des russischen Volkes zu befreien, dieses prächtigen Volkes, das wie kaum eines noch voll ungenutzter Kraft ist und über einen Fundus an Menschlichkeit verfügt, der allein schon zur Hoffnung auf eine für uns alle humanere, bessere Zukunft berechtigt.

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