Wei Jingsheng, chinesischer Dissident: "Ich habe den Weg der Wahrheit gewählt"

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Menschenrechte in China: Der Westen drückt da gerne ein Auge zu, ist doch das Land ein Hoffnungsmarkt. Obwohl nun auch Olympische Spiele in Peking stattfinden werden, verschlechtert sich dort die Menschenrechtssituation. Gespräch mit einem Insider.

die furche: Sie befinden sich hier in Genf, der Stadt in der alljährlich die Menschenrechtskomission tagt. Was sagen Sie dazu, dass es China in diesem Frühjahr zum zehnten Mal gelungen ist, eine Verurteilung durch die Kommission abzuwenden?

Wei Jingsheng: Ich finde, es gereicht weder der UNO, noch der gesamten internationalen Gemeinschaft zur Ehre, dass man sich auch in diesem Jahr zu keiner Resolution durchgerungen hat. Erneut hat die internationale Gemeinschaft es nicht gewagt, sich gegen die abscheulichen Menschenrechtsverletzungen in China auszusprechen. Diese Haltung zeugt von einem Mangel an Mut und Würde. Auch widerspricht es den grundlegenden Zielen der Kommission, dass bei den Diskussionen über die Menschenrechtslage in China, einem Land in dem immerhin ein Fünftel der Menschheit lebt, nur offiziell zugelassene Menschenrechtsorganisationen zu Wort kommen. Keine einzige chinesische Nicht-Regierungs-Organisation darf für das chinesische Volk sprechen.

die furche: Was kann ein einzelner, wie zum Beispiel ein chinesischer Dissident wie Sie, heute noch bewirken?

Wei: Als chinesischer Dissident erhebe ich meine Stimme wieder und wieder, damit die gesamte Welt erfährt, unter welchen fragwürdigen Bedingungen die chinesische Bevölkerung zu leben gezwungen wird. Ich will, dass die Wahrheit über die ständigen Verletzungen fundamentalster Menschenrechte in China ans Licht kommt und stelle mich allen Versuchen, sie zu vertuschen, entschieden entgegen. Vor allem bin ich überzeugt, dass einzelne Menschen, die nicht davor zurückschrecken Ungerechtigkeiten anzuprangern, auch andere ermutigen, sich nicht länger unterdrücken zu lassen. So kann eine Bewegung entstehen, die stark genug ist, sich gegen die Einschüchterungsversuche der Soldaten zu wehren.

die furche: Man spricht davon, Sie könnten mit Friedensnobelpreis ausgezeichnet werden. Würde das etwas an der Lage in China ändern?

Wei: Davon bin ich überzeugt. Ein Preis mit so hohem internationalen Ansehen hätte auf alle Menschen, die sich für Freiheit und die Menschenrechte in China einsetzen, eine sehr ermutigende Wirkung. Aber wir alle kämpfen der Sache wegen und nicht im Gedanken daran, mit irgendwelchen Preisen für unseren Einsatz ausgezeichnet zu werden. Es ist traurig, dass die Leiden der chinesischen Bevölkerung ständig zunehmen und die Regierung die Chinesen immer mehr unterdrückt.

die furche: Glauben Sie, dass ein Demokratisierungsprozess von oben Chinas Öffnung bewirken wird?

Wei: China krankt vor allem an der Allmacht der Beamten. Man darf den Selbstschutz der Bürokratie nicht unterschätzen. Wenn über diese Missstände Millionen von Unterprivilegierten die Geduld reißen sollte, könnte es zu einem Dammbruch kommen. Kein Mensch kann voraussagen, welche Ausmaße eine solche Entwicklung annehmen würde. Wir jedenfalls wünschen uns eine friedliche Reform. Aber in welcher Form auch immer der Wandel in China stattfindet, bis China wirklich ein demokratischer Staat ist, wird noch sehr, sehr viel Zeit vergehen.

die furche: Sprechen wir über Ihr Schicksal. Woher nahmen Sie die Kraft, ungebrochen 18 Jahre in chinesischen Gefängnissen unter schwierigsten Bedingungen zu überleben?

Wei: Ich frage mich selbst oft verwundert, wieso war gerade ich in der Lage, mich von all den körperlichen und seelischen Torturen nicht unterkriegen zu lassen. Ich bin nämlich ein Mensch wie alle anderen. Aber ich habe sogar meine Wärter in Erstaunen versetzt. Eines Tages fragte mich ein Wärter, ob ich meinen Einsatz bereuen und wenn ich könnte, einen anderen Weg wählen würde. Da wurde mir klar, wenn man einmal den Weg der Wahrheit gewählt hat, dann gibt es kein zurück. Wer sich einmal wirklich für die Wahrheit entschieden hat, der bekommt die Kraft sich durch keine Folter der Welt davon abbringen zu lassen. Die Wahrheit ist die Wahrheit. Wenn man das verstanden hat, dann ist es unmöglich geworden, sich selbst zu belügen. Es war mein unwiderruflicher Entschluss, mich für andere einzusetzen, der mir geholfen hat alle Leiden zu überstehen.

die furche: Liegt dieser Haltung eine religiöse Dimension zu Grunde?

Wei: Nein, ich denke nicht, dass man religiös sein muss, um nach der Wahrheit zu suchen und für sie zu leben.

die furche: Werden in China die Impulse der Veränderung mehr von Idealisten oder mehr von Materialisten oder Konsumenten ausgehen?

Wei: In den letzten 20 Jahren haben die meisten Chinesen sich mehr Freiheit und Demokratie für das Land sicher hauptsächlich aus idealistischen Motiven gewünscht. Heute hat sich das wohl verändert. Es gibt immer mehr Chinesen, denen mehr vor allem um ihr persönliches Interesse geht. Aber auch der Wunsch nach mehr Wohlstand ist ein Motor, der zu politischen Veränderungen in China führen wird.

die furche: Also Wandel durch Handel?

Wei: Ja, tiefgreifende ökonomische Veränderungen beginnen auch die Mentalität der Chinesen zu verändern. Das wird sich, wie gesagt, schließlich auch auf die politischen Strukturen auswirken. Aber andererseits ist es eine Illusion zu glauben, dass sich China allein durch mehr Wohlstand von einem totalitären Staat in eine Demokratie verwandeln wird.

die furche: Und was sagen Sie zu Peking als Austragungsort der Olympischen Sommerspiele 2008?

Wei: Man hat oft gesagt, die Olympischen Spiele hätten nichts mit Politik zu tun. Beim Sport ist es wie bei den Menschenrechten, beide Bereiche haben eine unpolitische und eine politische Dimension. Hat sich nicht auch die chinesische Regierung bei ihrer Kandidatur für die Olympischen Spiele 2008 politischer Mittel bedient? So wurde indirekt ein so starker wirtschaftlicher Druck auf Firmen ausgeübt, die China investieren wollen, dass sie es oft nicht mehr wagen, die häufigen Menschenrechtsverletzungen offen zu kritisieren. Sie verzichten also auf ihre Meinungsfreiheit und übernehmen die von einem totalitären Regime vorgeschriebene Meinung. Das heißt, da werden nicht demokratische Impulse nach China importiert, sondern undemokratische Maßregelungen, wie eine geknebelte Meinungsbildung in andere Länder exportiert.

die furche: Könnten sich innenpolitische Spannungen auf die Olympischen Spiele auswirken?

Wei: Viele Chinesen freuen sich über die Olympischen Spiele. Aber auf den meisten chinesischen Internetseiten zum Beispiel kommt ein ziemliches Missfallen an diesen Spielen zum Ausdruck. Ich halte diesen Widerspruch allerdings für völlig normal.

die furche: Warum ist es normal, dass die Bevölkerung in dieser Frage gespalten ist?

Wei: Jedesmal wenn in China große internationale Veranstaltung organisiert werden, dann müssen die Bewohner Stadt, in der das Ereignis stattfindet, große Einschränkungen über sich ergehen lassen. Das wird bei der Olympiade 2008 nicht anders sein. Auch diesmal werden sich die Sicherheitsorgane ständig neue Restriktionen für die Bewohner Pekings einfallen lassen. Dann kommen noch die zusätzlichen Steuern dazu, die eingezogen werden, um auf dem Rücken der chinesischen Bevölkerung die verschiedenen Olympiastätten zu errichten. Bereits 1993, während der ersten Olympiade Kandidatur Pekings, waren hauptsächlich die armen Bauern dagegen. Aber ich weiß, dass viele Chinesen sich auf die Spiele freuen.

die furche: Glauben Sie, dass es auf Dauer einen wirtschaftlichen Fortschritt in China ohne demokratische Strukturen geben kann?

Wei: Nein, das glaube ich nicht. Außerdem sind die meisten Chinesen für die Demokratie. Das scheint mir in jeder Hinsicht das beste Fundament für ein zukünftiges China zu sein. Sonst besteht immer die Gefahr, dass nur einige wenige am wirtschaftlichen Fortschritt profitieren. Das Pendel in einem Einparteiensaat, der die meisten Unternehmen unter Kontrolle hält, kann schnell umschlagen. Was mich beunruhigt ist, dass viele demokratische Staaten den Verlockungen des chinesischen Marktes erliegen. Dadurch missachten sie den Kampf des chinesischen Volks um seine fundamentalen Freiheiten. Aber ich bin sicher, dass die freie Welt langfristig ihre Prinzipien und ihre Verantwortung gegenüber der Menschheit nicht für einige Hände voll Münzen verkaufen wird.

Das Gespräch führte Felicitas von Schönborn.

Zur Person: 18 Jahre Haft in China

Wei Jingsheng, der "Vater der Demokratiebewegung" wurde am 20. Mai 1950 in Peking geboren. Seine Eltern waren im mittleren Kader von Maos Befreiungsarmee. 1967 schloss er sich einer Oppositiongruppe an, wurde verhaftet und nach kurzem Prozess zu einer hohen Haftstrafe verurteilt, wegen seiner Minderjährigkeit aber nach drei Monaten entlassen.

1973 bekam er nach vierjähriger Militärzeit eine Stelle als Elektriker in Peking. Als er Deng Xiaoping auf einer Wandzeitung kritisierte, wurde er 1978 wieder verhaftet und zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt. Das Urteil rief weltweit scharfe Proteste hervor. 1993 wurde er nach 14 1/2 Jahren vorzeitig als "großzügige Geste" wegen Chinas Bewerbung um die Olympischen Spiele 2000 vorzeitig entlassen.

Da Wei seine Ideen weiterhin verbreitete, wurde er 1994 erneut zu 14 Jahren Gefängnis verurteilt und 1997 gegen seinen Willen in die USA ausgebürgert. 1998 gründete er die Demokratische Vereinigung der chinesischen Dissidenten im Ausland. Heute setzt er sich im Rundfunk mit der Sendung "Free China" von den USA und in Zeitungsartikeln für die Menschenrechte in China ein.

u.a. wurde er 1994 mit dem Kennedy Preis (USA), und 1995 mit dem Olof-Palme-Preis (Schweden) ausgezeichnet.

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