Zum Warten verdammt

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Wie sehen sich russische Oppositionelle nach dem Nemzow-Mord selbst? Eine Abrechnung mit dem Schicksal der Bedeutungslosigkeit.

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Wie sehen sich russische Oppositionelle nach dem Nemzow-Mord selbst? Eine Abrechnung mit dem Schicksal der Bedeutungslosigkeit.

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Dort, auf der Brücke am Kreml, wo die feuchte, graue Luft mit dem Geruch von heißem Kerzenwachs und verwelkten Blumen erfüllt war, erinnerte ich mich an mein erstes und einziges Treffen mit Boris Nemzow. Es hatte ein paar Schritte weiter im Hotel "Rossija" ("Russland") stattgefunden, welches später abgerissen wurde. An seiner Stelle befindet sich heute eine umzäunte Brachfläche. Wir trafen uns in einem Russland also, das es heute nicht mehr gibt.

Es war im Herbst 2003, am Vorabend der Duma-Wahlen. Nemzow war Duma-Abgeordneter und seine Partei "Union der rechten Kräfte" ("Sojus prawych sil", kurz "SPS") erwies einer journalistischen Untersuchung, die meine Zeitung durchführte, parlamentarische Unterstützung. Ich arbeitete damals für die pädagogische Zeitung Erster September. Wir recherchierten den Tod eines Schuljungen während eines schulischen Militärtrainings.

Mit Blaulicht zum Flughafen

Ich erinnere mich noch daran, dass Nemzow und seine Parteigenossen an sich glaubten, sie waren sich sicher, dass sie ins Parlament kommen würden und witzelten fröhlich darüber. Damit ich zum Flughafen fahren und die Leute abholen konnte, die im Zentrum unserer Untersuchung standen, lieh Nemzows Partei mir einen schwarzen BMW mit Blaulicht, ein Auto, welches sonst obersten Staatsbeamten zusteht.

Doch nach anderthalb Monaten war es mit all dem vorbei. Die zwei demokratischen Parteien - Jabloko und Nemzows SPS - verloren die Parlamentswahlen, weil sie an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterten. Bürgerschaftliches Engagement bestand seitdem hauptsächlich in Wohltätigkeit. Die Menschen waren bereit, die Fehler und Missstände des Staates wiedergutzumachen, für Kinder- und Altenheime Geld zu sammeln, aber sie waren nicht dazu bereit, das eigene Staatssystem zu verändern. Das hätte bedeutet, die Komfortzone verlassen zu müssen.

Die Komfortzone gewährleistete wachsende Einkommen und das allgemeine Wohlstandswachstum, welches dem steigendem Ölpreis zu verdanken war, und durch die Konjunkturentwicklung, welche neue Arten intellektueller Arbeit schuf. Proteststimmung kam 2011 auf, als klar wurde, dass Präsident Dmitri Medwedjew gehen und Wladimir Putin erneut gewählt werden würde. Der unehrliche Kniff, die Unehrlichkeit führten dazu, dass das Motto "Für ehrliche Wahlen" zur Losung des Protests wurde - seltsamerweise ein apolitisches Motto.

Die Forderung nach "ehrlichen Wahlen" klang würdevoll -dahinter hegte man jedoch keinerlei Hoffnungen, diese Wahlen gewinnen zu können. Es war das Angebot, nach den Regeln zu spielen -und dahinter die Unfähigkeit, überhaupt am Spiel teilnehmen zu können. Natürlich bewirkte dieser Protest nur, dass die Schrauben des staatlichen Machtapparats noch fester angezogen und die Demonstranten auf dem Bolotnaja-Platz im Mai 2012 wegen angeblicher Angriffe auf die Polizei verhaftet wurden.

So begann sich der moralische und physische Druck zu verschärfen. Auf einer Kundgebung muss man nun darauf gefasst sein, geschlagen und für 15 Tage eingesperrt zu werden. Im öffentlichen Umfeld muss man sich auf moralischen Schaden einstellen, darauf, dass man verleumdet und als Verräter bezeichnet wird -persönlich oder als Gruppe. Das spaltet viele ab. Es bleibt ein Freundeskreis, in dem alle über eine oder zwei Personen miteinander bekannt sind, ein Kreis ratlos Zurückgebliebener, die nicht wissen, was sie weiter tun sollen.

Klar ist, dass Putin die Macht nicht freiwillig abgibt. Klar ist, dass die Protestierenden in der Minderheit sind. Und entweder muss man sich geschlagen geben oder eine radikale Minderheitenpartei gründen, eine Partei leninistischen Typs, eine illegale Partei, und auf eine günstige Konjunktur der Geschichte warten, wie sie im Jahr 1917 stattfand. Und dafür muss man mit Verhaftungen, mit seinem Leben und mit seinem Schicksal für den gewählten Weg bezahlen.

Wir haben gelernt, uns zu verstecken, aber unsere Generation ist in gewisser Hinsicht mit der Leichtigkeit verwöhnt worden, mit der die UdSSR zusammenbrach.

Außerdem sind wir die Kinder von Menschen, welche gelernt hatten, sich den Umständen anzupassen, in vor dem Staat verborgenen "Nischen" zu überleben, eine alternative Tagesordnung zu erstellen. Wir sind Kinder von Menschen, die gelernt hatten, Loyalität zu demonstrieren - und hinterm Rücken eine lange Nase zu drehen. Kinder von Menschen, die das Leben gelehrt hatte nicht aufzufallen, nichts zu riskieren, gehorsam zu sein - so lebte die Mehrheit der Menschen in der späten UdSSR. Und ich denke, das sitzt sehr tief in uns, für rationale Verhaltenstaktiken unerreichbar.

Keine Bedrohung

Die Losung der Protestaktionen aus den Jahren 2011 und 2012 war: "Ihr kennt uns nicht einmal". Aber wir kennen uns ja selbst nicht einmal, es gibt für uns keine andere Lebenserfahrung, aus der wir schöpfen könnten. Die Mehrheit von uns hat während der Anfangsjahre des neuen Jahrtausends geschwiegen. Geschwiegen, als die Geiselnahme von Beslan passierte. Geschwiegen, als die Gouverneurswahlen abgeschafft wurden. Geschwiegen, als Anna Politkowskaja ermordet wurde - an Putins Geburtstag. Geschwiegen, als die Farce mit Präsident Medwedjew gespielt wurde. Und als wir 2011 aufhörten zu schweigen, war es bereits zu spät. Deshalb gibt es heute keine Opposition. Einer der Teilnehmer am Trauerzug für Nemzow fragte einen Oberstleutnant der Polizei, warum die Eingänge zum Roten Platz nicht gesperrt seien. Der Oberstleutnant antwortete: Wir erwarten von euch keine Bedrohung.

Es ist ein erniedrigender, furchtbarer Zustand: zu wissen, dass einer von uns ermordet worden ist - wir aber keine Möglichkeit haben, eine transparente Ermittlung zu Wege zu bringen. Am Todesort vorbeizugehen, Gedenktribut zu zollen, Blumen niederzulegen, den Duft der Trauerkerzen zu atmen, um dann jeder für sich wieder nach Haus zu gehen. Halt suchen in historischen Parallelen: Ist es ein Mord wie der an Sergei Kirow, der als Auslöser des stalinistischen Terrors gesehen wird, oder ist es der Beginn des Jahres 1937 - wir sind zum Warten verdammt.

Der Autor lebt als Journalist und Schriftsteller in Moskau

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