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Das geistige Antlitz der Weit

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Berge und Flüsse prägen das Bild einer Landschaft, Kirchen und weltliche Bauten, Burgen und Brücken das Gesicht ihrer Städte. Grenzen bestimmen das Farbenbild der politischen Landkarte, Kriege und Revolutionen, Staatsmänner und Herrscherhäuser den äußeren Ablauf der Geschichte ihres Landes. Das Antlitz einer Zeit aber wird von dem unsichtbaren Geiste geprägt, der die Menschen in ihrem Tun und Lassen, in ihrem Handeln und Wandeln beherrscht. Geist aber ist der Mittler zwischen der Welt um uns und der Welt in uns, Geist ist das Auge, mit dem wir die Welt um uns sehen und in uns aufnehmen, Geist ist zugleich die unerforschbare innere Kraft, mit der wir die Welt um uns und in uns gestalten.

Die gewaltige Entwicklung der Technik und Chemie hat im Laufe der letzten hundert Jahre das äußere Bild unserer Landschaften und unserer Städte in mannigfaltigster Weise geändert. Wo vor ein paar Jahrzehnten noch Wiesen und Felder mit ihrem satten Grün oder dem leuchtenden Gold der Ähren das farbenfrohe Bild der Landschaften beherrschten, recken heute gewaltige Fabriken ihre rauchenden Schlote in den Himmel und breiten ihre grauen Rauchschwaden über das Weichbild ihrer Mauern und der Wohnblocks ihrer Umgebung. Das Idyll der sich durch Felder und Haine anschmiegsam hinschlängelnden Straßen mit der gelben Postkutsche ist verschwunden, und an ihrer Stelle durchrasen lange Züge mit schmissigen Lokomotiven auf endlosen Schienensträngen das Land. Selbst auf dem Acker hat die Maschine schon weitgehend das Pferd und das Ochsengespann verdrängt. Moderne Leuchtröhren haben in der Stadt das einst nur durch den flackernden Schein einer schwachen Straßenlaterne erhellte Dunkel der Nacht schon zum hellen und lebendigen Tag verwandelt.

Hand in Hand mit dieser Entwicklung der Technik und des Fortschrittes ging auch eine Wandlung im Lebensstil der Menschen vor sich. Die Annehmlichkeiten, die die Erfindungen der Technik dem Menschen im täglichen Leben aufs neue schenken, haben ihm gleichzeitig neue Gestaltungsmöglichkeiten des Lebens eröffnet. Die Überwindung von Raum und Zeit durch die modernen Verkehrsmittel hat ihn immer mehr aus .der Enge seiner nächsten Umgebung herausgerissen. Schließlich hat sich das Tempo der Maschine auch des Menschen bemächtigt. Hast und Unrast sind seither seine steten Begleiter geworden, die Tag und Nacht nicht mehr von seiner Seite weichen.

Mit dieser Entwicklung hat auch die Medizin Schritt gehalten. Durch die erfolgreiche Bekämpfung zahlreicher Krankheiten hat sie insbesondere die Kindersterblichkeit herabgesetzt und die Lebenssicherheit der Erwachsenen wesentlich erhöht.

Diese Erhöhung der Lebenssicherheit haben allerdings die Menschen durch die noch schnellere Entwicklung der zerstörenden Kräfte der Technik wieder zunichte gemacht. Die Waffen der Vernichtung haben sich in derselben Zeit ungleich schneller entwickelt als die gegen ihre vernichtende Wirkung einsetz- baren Schutzmittel. Was den Menschen geblieben ist, ist die Furcht, nicht vor den Kräften der Natur oder der Maschinen, sondern vor den Menschen, in deren Hände ihre Freimachung gelegt ist.

Viel tiefgreifender aber als diese äußere Entwicklung der Technik und die Änderung des Lebensstiles der Menschen ist die Tatsache, daß mit der Erforschung der Natur und ihrer Elemente und Kräfte die Entwicklung des menschlichen Geistes und seiner geheimen Kräfte nicht mehr Schritt gehalten hat.

Materialisierung des Menschen?

Die Naturwissenschaft, die sich die Beherrschung der Natur und ihrer Kräfte zum Ziele gesetzt und die Materie in ihre kleinsten Bestandteile und unsichtbaren Wirkkräfte auf gespalten hat, neigt von Natur zu einem Materialismus. Sie bleibt ihm auch verhaftet, wenn sie von der letzten greifbaren Materie nicht vordringt in die transzendentale, jenseits der greifbaren, materiell-ursächlichen Zusammenhänge liegende Welt der geistigen Urheberschaft und geistigen Zweckbestimmung derselben. Bleibt sie also in dieser materialistischen Betrachtungsweise von Ursache und Wirkung in der Natur stecken, so endet sie zwangsläufig in einer materialistischen Weltanschauung. Diese Feststellung gilt nicht nur für den Bereich der Naturwissenschaften, sondern auch für die anderen Zweige unseres Wissens und auch die Bereiche des menschlichen Lebens schlechthin. In der Tat hat sich das rein materialistische Denken der Naturwissenschaften schon weit in die Gebiete der anderen Wissenschaften eingeschlichen. Es hat in die Philosophie ebenso Eingang gefunden wie in die verschiedenen Zweige der Kunst, in die Deutung des Rechtes wie in die Erforschung der Weltgeschichte und ihres Ablaufs, in die Wirtschaft wie in die Politik, selbst in die Bereiche der privatesten und intimsten Beziehungen der Menschen, die heute schon weitgehend materialisiert sind.

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