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Es gab keinen Geßlerhut

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ILLUSTRIERTE GESCHICHTE DER SCHWEIZ. Zweiter Band. Entstehung. Wachstum und Untergang der Alten Eidgenossenschaft. Von Sigmund W i d m e r. Benziger-Verlag, Einsiedeln-Zürich-Köln. 303 Seiten, 433 Bilder und 6 Karten. Preis 48 sfr.

Jeder Staat braucht mehrere Arten Geschichtsbücher, für die Wissenschaft, für die breiten bildungsfreudigen Kreise und für die Jugend. Alle Arten sind gleich wichtig, und wenn sie nicht gepflegt werden, dann holen sich die Menschen ihre geschichtliche Bildung aus Theater, Roman, Film und Fernsehen. Im allgemeinen fehlt es zumeist an Werken für die breiten Kreise, also an Werken, die in konzentrierter Zusammenschau fachlich und dabei verständlich Geschichte derart vermitteln, daß man sich ihr gerne zuwendet. Mit der „Illustrierten Geschichte der Schweiz“ ist ein nachahmenswertes Beispiel entstanden, denn diese Geschichte zeigt — abgesehen von ihrer prächtigen Ausstattung — alle Vorzüge überlegter Geschichtsschreibung: von allem oft bevorzugten Nebensächlichkefccnballast befreite und dem Chauvinismus femstehende Darstellung, ernste, ungeschminkte Selbstkritik, durch vorzügliche, überreiche und vielartige Bebilderung gefördertes Verstehen, mit Literaturangaben, Personen-, Sach- und Ortsregistern jenen helfend, die in den Stoff tiefer einzudringen wünschen. Vorbildlich ist das Festhalten an der geschichtlichen Überlieferung, dieser bewußte Blick in das Gestern, ohne den kein Volk mehr wäre als eine amorphe Menschenmasse. Nicht ganz neidlos müssen wir Österreicher Widmers Werk betrachten, will man doch hierzulande in eigenartiger, parteipolitisch bedingter geistiger Verkümmerung die Geschichte oft mit Traditionssperre erst 1955, bestenfalls 1918 beginnen lassen.

Der erste Band erschien im Jahre 1958

und behandelte die Urgeschichte, die römische Zeit und das Frühmittelalter, der vorliegende zweite Band umfaßt die Zeit von 1273 bis zur Französischen Revolution, und dieses halbe Jahrtausend schweizerischer Geschichte ist auch ein gutes Stück österreichischer Geschichte. Ganz besonders müssen die 200 Jahre, .von 1291 bis 1499, das ist der habsburgisch-eidgenössi-sche Kampf, hervorgehoben werden, von dem uns der Autor ein in manchem neues Bild vermittelt. Es gab — wie zu lesen ist — keine von nicht wenigen noch immer geglaubte habsburgische Unterdrückung oder Zwangsherrschaft, es gab weder Geßlerhut noch Wilhelm Teil, die nur eine ,<Befreiungssage“ (S. 25) sind, es gab lediglich auf der einen Seite den eidgenössischen Drang nach Eroberung habsburgi-

scher Lande, „eine ganze Kette überstürzter Raubzüge und Angriffe“ (S. 67), verbunden mit dem Streben, die entstehende Schweiz gegen gewiß nicht ungefährliche, mächtigere Nachbarn, also auch gegen eine Vorherrschaft der Habsburger im gemeinsamen Lebensraum, zu sichern, auf der anderen Seite das verständliche Bemühen der Habsburger, ihren rechtmäßigen Besitz zu verteidigen! „Den dauernden und immer kühneren Übergriffen auf ihr Eigentum durften sie nicht länger tatenlos gegenüberstehen“ (S. 22). Daß die Habsburger in diesem, man kann sagen naturgegebenen Wettstreit so viele Niederlagen haben hinnehmen müssen, erklärt sich damit, daß sie ihre militärischen Kräfte stets örtlich entfernteren und wichtigeren Aufgaben widmen mußten als dem Kleinkrieg mit den Eidgenossen, dem sie in zweifelloser Unterschätzung meist unvorbereitet und ungerüstet entgegentraten.

Ausgezeichnet herausgearbeitet ist das ureigentliche Wesen der Eidgenossenschaft, diese unbeirrbare Bejahung von Selbständigkeit, Unabhängigkeit und Ungebunden-heit selbst innerstaatlichen Anrainern gegenüber, dazu ein oft ungezügelter soldatischer Geist, der lange den Lebensinhalt im Kriege und in „straff organisierten Beutezügen“ (S. 205) sah. Doch verstanden es die Eidgenossen in angeborener nüchterner Betrachtung der Dinge ihren Eroberungen zeitgerecht ein natürliches Ziel zu setzen und über das dem Volk angepaßte Territorium — dem heutigen Staatsgebiet — nie hinauszugreifen. Gleichzeitig legten sie sich bereits im 17. Jahrhundert auf die bewaffnete Neutralität fest, der sie genügend Opfer brachten, so daß es seit 1815 niemand mehr gewagt hat, ihr aus zahlreichen rühmenswerten Schlachten gezimmertes Land anzugreifen.

Die „Illustrierte Geschichte der Schweiz“ ist stofflich sorgsam und harmonisch ausgemessen nach politischer Geschichte, nach Glaubenskämpfen und Klostergeschichte, nach geistiger Entwicklung, Kunst und Wissenschaft, Wirtschaft und Handel, sie bringt eine stolze Reihe von Lebensbildern schöpferischer Schweizer (Bernoulli, Bod-mer, Euler, Merian, Paracelsus, Lavater, Pestalozzi, Rousseau, Haller, Tschudi, Calvin, Zwingli) und gewährt breiten Raum dem Söldnertum mit allen seinen Schwächen und in seinen staatlich-soziologischen Auswirkungen. Nach den gelungenen Proben, die der erste und zweite Band geliefert haben, kann man dem dritten Band mit gespanntem Interesse entgegensehen.

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