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Natursinn und Naturerleben

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In den zwei großen Theologen der spanischen Westgoten und Angelsachsen gegen Ende der altkirchlichen Zeit, Isidor von Sevilla (gest. 636) und Beda Venerabiiis (geb. 672'73, gest. 735), dem Gelehrten und als Persönlichkeit bedeutsamem Mönch von Jarrow (Northumberland) und ersten germanischen Historiker, gipfelt die abendländische kosmogonisdie Tradition dieser Epoche. Aus ihren Auslegungen der biblischen Schöpfungsgesdiichte kam eine Fülle von wertvollen astronomisch-kosmo-graphischen Erkenntnissen, enzyklopädischen Ubersichten, Versuchen von Klassifizierungen und Stammbäumen, die uns einen Einblick in Art und Methode gewähren, wie vor allem Beda die Natur als Ganzes, als Universalität und Einheit sieht, erlebt und deutet, wie er gesetzmäßige Zusammenhänge und ihren Stufenbau erkennt und auch durch poetische, bildhafte, metaphorische Analogien, Tatsadaen der Naturerkenntnis sagt. Beda weiß als Naturbetrachter wohl zu scheiden: Symbol und Erfahrung, Symbol und Gegenstand, Symbol und Naturreiche, Symbol und Zahl. Er baut die „Zahl“, das Rechnen, die mathematisch-mystische Idee, die Chronologie mit der Astronomie in seine sdiöpfungsgeschicht-liche Exegese und ihre historisdi-realisti-schen Theorien und Deutungen, die dann den Nachfolgenden neue schöpferische Anregungen boten. Beda übernimmt auch da uraltes Gedankengut und seine seltsame Gleichnissprache, die eigentlich auf geometrische Ursymbole, archaische Wurzeln, Piaton und die Neuplatoniker zurückgehen. Immer mehr drängt er aber, bei aller Vorliebe für Zahlenmystik und geometrische Symbolik, von der poetisdien Allegorie ab, immer mehr meidet er jene antike Entfremdung vom realen Leben, wie sie die Naturbetrachtung und das Naturgefühl des Späthellenismus und seine subjektive Naturromantik auffallend zeigen Beda kämpft um die „entschiedene Anerkennung der Realität eines ' zeitlichen Verlaufes der Schöpfung“. Er lehnt als Naturbetrachter die sdirankenlose Herrschaft der Subjektivität und Phantasie energisch ab, er will die Hingabe an die Natur, aber er sieht Gefahr in der fessellosen Willkür.

Sein Naturbild ist als Wirklichkeitserfassung sadilich, elementar und von großer Einfadiheit, es repräsentiert eine Zeit der Anfänge, die eine naturwissenschaftliche Denkform sucht und findet. Dieses Naturbild zeigt die Züge editer mittelalter1-licher Geisteshaltung, getragen vom theo-zentrischen Universalismus und Gradualis-mus, es verwirklicht die Idee vom Organismus und metaphysischem Heilsystem. Alles steht im Verhältnis der Gottbezogenheii, vor allem der Mensch, die größte Erscheinung des Kosmos. Alles dient zur Aufhellung der menschlichen Daseinsweise. Der Rahmen von Bedas Weltbild ist antik, so sind es audi die großen Grundlinien philo-sophisch-naturwissenschaftlidien Denkens und gewisse philosophische Weltcrklärungsver-sudie. Griechij.ch ist audi seine ganze philo-sophisdie Grundlegung der geschiditlichen Geisteswissenschaften, griechisch aber auch der Glaube an das höhere Bild des Menschen, das hinter aller Wissensdiaft und Forsdiung steht und alle Endlid:keit überwindet. So ist auch Bedas Weltbild aus vielen Fäden der griechischen Seele gewebt. Das Ganze beseelt ein tiefgläubiges Weltgefühl, das von der Überzeugung der Notwendigkeit des Naturgeschehens den philosophischen Sinn gibt. Beda war kein Romantiker im Sinne des abblühenden Altertums, weil er als sdiarfer Denker den Übergang von Phantasie und Gedanken in die hohen Denkformen reinster Geistigkeit immer und überall strenger Kritik unterzog. E r warnte die Vernunft, sich auf den Umwegen und Irrwegen der Dichtung zu verlieren. Wesen und Erscheinung müssen in ihrer Verbindung deutlidi erkennbar bleiben, es muß in ihr das Ding bedeuten, als was es er-sdieint. Aus allem, was Beda . sagte und schrieb, wird uns die Ehrfurcht vor der Tatsache des gesetzmäßigen Naturgeschehens fühlbar, das er als Weltbild und unmittelbaren Eindruck anerkennt. Ihrer Formulierung mißt er eine unanfechtbare Sicherheit bei. Ihm ist die physikalische und kosmische Welt in dem gleichen Maße wirklich wie die, welche uns aus dem gewöhnlichen Leben geläufig ist. Gewiß, auch Beda kennt die allegorische Paraphrase, die poetische Bekräftigung der biblischen Schöpfungsgeschichte und freie Bearbeitung ihres Inhaltes (zum Beispiel in „De universis Dei operibus“), aber er versucht angesichts der Wirklichkeit, einen Begriff der Realität der physisdien Welt zu prägen und zu erklären, wie das Absolute seine zeitliche Form findet. Für die naive Naturbetrachtung seiner Tage ein bedeutsames Unterfangen. So ringt dieser forschungsfreudige Mann um die innere und äußere Wahrhaftigkeit und Wirklichkeit, um die Einfachheit, Ursprünglichkeit und Klarheit eines einheitlichen Naturbildes. Kindliche Analogien stehen neben genialen Intuitionen. Niemals hat er — auch hier gleidit er dem größten Naturforscher des Mittelalters, dem heiligen Albertus Magnus (1193—1281) — das Zutrauen zu der festbegründeten Erde verloren, der Quelle alles Lebens, Endens und Beginnens.

Als Naturforscher vermochte er in dieser Frühzeit der Naturerkenntnis zwar nur die Welt so zu beschreiben, wie es der damaligen Deutung des Baues der Welt, ihrer Grundlagen und dem Verständnis der Grundbegriffe im wesentlichen entsprach. Auch er konnte nicht aus dem geschlossenen physikalischen Weltbild heraus, aber vor allem nicht aus den Denkformen natur-wissensdiaftlicher Art, die sich aus ihren Bedingungen ein Bild der Natur entwarfen.

Beda war „ein großer und genialer Chronologe“ (Wilhelm Kubitschek), seine Arbeiten sind die Grundlage aller mittelalterlichen Osterberechnungen des Okzidentes, und alle späteren Komputisten sind von ihm abhängig, alle Angaben über Jahres-charakterismen, Mondalter und anderes sind aus ihm entnommen (Franz Rühl). Immer wieder sind Bedas Zeitberechnungen fortgesetzt, neu bearbeitet und ergänzt worden. Vor allem sind aus praktischen Gründen die alten bedanischen Tafeln mit neuen Rubriken versehen worden. Wilhelm Kubitschek weist darauf hin, daß Beda in seiner (im Jahre 725 verfaßten) Abhandlung „De temporis ratione“, cop. 15 (Ausgabe zum Beispiel in Mignes, Lat. Patrologie XC, 306), das Schaltjahr der Angelsachsen mit 13 Monaten berechnet, diesen 13. Monat aber, den er Thrilidi nennt, an das Ende des Sommers, also nach dem Juli verlegt. Josef A. Jungmann macht darauf aufmerksam, daß Beda der erste Zeuge der Datierungsweise ist, die den 24. Dezember als Jahresanfang rechnet. Sie ist vom 8. bis ins 14. Jahrhundert vor allem in Deutschland und in Frankreich in Urkunden bei der Zählung der Indiktionert üblidi. Der 24. September war seit der Karolingerzeit zugleich Adventsbeginn und das Fest der Conceptio saneti Johannis; also neun Monate vor dem Geburtsfeste Johannes des Täufers (24. Juni) und in Parallele zum Feste Maria Verkündigung (25. März).

Der heilige Beda schöpfte auch oft aus der berühmten Naturgeschidite des Gajus Plinius Secundus major (23 bis 79 n. Chr.), zum Beispiel in seinen Anschauungen über die endogenen Kräfte der Erde. Er deutet seismische Bewegungen als durch Stürme hervorgerufen, die aus dem nach Art eines Schwammes perforierten Erdinnern austreten wollen (De rer. nat., c. 49). Oder wenn er sagt: Et hoc est in terra tremor, quod in nube tonitrum, hoeque hiatus, quod fulmen (De rer. nat., c. 49). Diese Auffassung deckt sich ebenfalls mit der pliniani-schen Erklärung in der Naturgeschichte (II, 79, 81): Das Leben im Erdkörper ist der gleiche Vorgang wie der Donner in den Wolken, das Bersten der Erdrinde ist mit dem Zerreißen der Wolkenschicht durch den Blitz zu vergleichen. Erdbeben seien unterirdische Gewitter. Diese interessante Theorie lebte noch in neuem Gewände um 1855, als Hofer die Hypothese aufstellte, daß die Erdbeben nur Gewitter seien, entweder im festen Medium der Erde, oder gemischte Gewitter, das heißt gleichzeitig in der Atmosphäre und in der Erde. Es seien solchen Entladungen von der Luft zur Erde oder umgekehrt die furchtbarsten' Katastrophen zuzuschreiben. Der Grundgedanke dieser Lehre geht eigentlich auf dem heiligen Beda zurück; er vermutet einen Vorgang, der physikalisch begründet ist: Das aufgehobene Gleichgewicht der Elektrizität sei die Ursache der Erdbeben. Übrigens stammen die wertvollsten seismisdien Theorien und Hypothesen im Mittelalter vom heiligen Albertus Magnus. Seiner Auffassung nach sei Dampf von unheimlicher Spannkraft, eine Art Gas, die Ursache der Erdbeben. Die atmosphärischen Stürme könnten, seiner Meinung nach, bei der Erzeugung von Erdbeben nicht die Mitursache sein. Der Herd der Erdbeben läge in tiefgelegenen Erdschichten, tiefer als die Thermalquellen.

Es ist schon erwähnt worden, wie treu ergeben Beda aller Tradition entgegenkommt: als Historiker, Naturbcobachter, Natur-beschreiber, Geograph und Kosmologe. Und doch gab er so viel Eigenes und Urtümliches. Er kennt Cassiu.s Dio, Orosius, Gildas, das Itinerarium Antonini und .das Itinine-rarium Maritimum, indirekt knüpft er tn Pytheas und Isidorius Characenus an, aber in allen seinen Schriften werden 'die Hauptlinien eigener Beobachtung und “Wertung ungewollt mit starken eindrucksvollen Strichen gekennzeichnet. Das gibt seinen Schilderungen schon etwas von der p 1 a-stischen Kraft des Lebens. Man spürt, daß dieser geniale Mann vieles zu sagen hat, dem Besonderheit und Einzigkeit zukommt. Man spürt es schon aus der guten, selbständigen Erzählweise. Von welch bunter Vielfalt sind seine Schilderungen Britanniens und Irlands, vor allem ihrer Naturerscheinungen und meteorologischklimatischen Eigenart! Er schildert (in manchem auf Orosius und Gildas fußend) Atmosphäre, Boden und Landschaftsbilder, Landschaftscharakter, Himmelsfarben und Polarnächte. Er müht sich um die Klarstellung der ältesten und jüngsten geographischen Namengebung und ähnliches. Hier wirkt er befruchtend auf die deutsche Geographie (Adam von Bremen). Beda war nicht ein mechanischer Sammler, sondern er ist der Gelehrte, der eine Auslegung der Natur und des Geschehens zu bieten versucht. Daß Beda den Ordnungen der Natur mit unermüdlichem Fleiße und vorbildlicher Demut nachsann, sie zu den Ordnungen des menschlichen Geistes in Beziehung setzte, sich um ein genaues Wissen dieses Geschehens bemühte: gerade darin beweist er Natursinn und Naturerleben. In seinen Hymnendichtungen spürt man vieles von diesem Naturerlebnis, in jener Poesie, die ja doch einen Kunststil ahnen läßt, der dem ambrosianischen verwandt ist. Schon in der karolingischen Zeit kam einiges davon in das Stundengebet des Breviers und in die gottesdienstlichen (liturgischen) Hymnen.

Beda war für seine Zeit ein großer Suchender. Er hatte den Instinkt des Beobachters, Fragenden und Forschers, aber sein Naturgefühl war nicht minder tief als das des ästhetischen Naturbetrachters. Hinter seinen mehr berichterstättenden Beschreibungen steht trotzdem die reine Freude an der^ Natur. Das Sehen und Fühlen derselben, das Bemühen um ihr Erkennen verklärten sein ganzes Lebenswerk zu einer bezwingenden natürlichen Großartigkeit. In einem Widmungsgedicht an Karl den Großen wird Beda „der wundersame Meister, weit bekannt auf dem Erdrund unseres Landes bahnbrechender Lehrmeister“ genannt, und Dante stellt den großen Gelehrten und Erschließer Englands im Paradies (IX, 131) neben Isidor, den Pfadbereiter und Missionar des westgotischen Spaniens.

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