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Allegorie des Lebens

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Criticön oder Ueber die allgemeinen Laster des Menschen. Von Baltasar Graeiin. Aus dem Spanischen von Hanns Studniczka. Rowohlts Klassiker. Rowohlt-Verlag, Hamburg. 228 Seiten. Preis 1.90 DM

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Criticön oder Ueber die allgemeinen Laster des Menschen. Von Baltasar Graeiin. Aus dem Spanischen von Hanns Studniczka. Rowohlts Klassiker. Rowohlt-Verlag, Hamburg. 228 Seiten. Preis 1.90 DM

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Der spanische Jesuit Baltasar Graciän (1601—1658) ist der Autor einer Sammlung von Lebensregeln (1647), die in der Uebersetzung Schopenhauers als „Handorakel und Kunst der Weltklugheit“ unsterblich geworden ist. Ein unvergleichliches Buch der Menschenkenntnis und Lebenskunst, das verdient, immer wieder gelesen zu werden. Graciän, kein sehr fügsames Mitglied des Ordens, aber ein kühner und tiefer Geist, hat noch einige andere Prosawerke veröffentlicht: unter anderen ein Buch über Stilkunst, einen geistlichen Traktat und den großen allegorischen Roman „El Criticön" (1651—1657). Dieser Roman wurde von Hanns Studniczka erstmals ganz ins Deutsche übersetzt, die vorliegende Fassung ist allerdings gekürzt. Das gehaltvolle „Nachwort zum Verständnis des Werkes“ stammt von dem bekannten Romanisten Hugo Friedrich.

Die „Handlung" sei kurz angedeutet: Critilo, ein reifer Mann, rettet sich nach einem Schiffbruch auf eine Insel und findet dort den jungen Andrenio, der ohne Kenntnis der Welt in einer Höhle aufgewachsen ist und von wilden Tieren ernährt wurde. Critilo reist mit ihm durch Spanien und andere Länder, immer auf der Suche nach seiner Geliebten Felisinda Personifikation des Glücks). Diese abenteuerliche Reise ist eigentlich eine Reise durch das ganze Leben, die beiden lernen die verschiedensten Menschentypen, Berufe, Stände und Situationen kennen, aber alles ist nur im allegorischen Sinn zu verstehen — ein grandioses Welttheater der Laster und Tugenden der Menschen. In jeder Episode folgt auf die Täuschung die Ent-Täuschung, die Zerstörung des Wahns. Dies entspricht dem Va nitasmotiv des Barocks und im besonderen der beherrschenden Rolle, die das „desengafio (etwa zu übersetzen mit „Befreiung vom Wahn“) im Denken Graciäns spielt. Denn Graciän ist ein pessimistischer, illusionistischer Beobachter des Lebens, der den Welttrug durchschaut. Als Weiser gilt ihm ein Mann, der in klarer Erkenntnis der Wirklichkeit mit kluger Taktik das Nötige tut und sich selbst zu bewahren versteht. Die Abhängigkeit von der Gesellschaft zwingt zu einem Doppelleben: „zum Scheinhaften der Repräsentation und zum verborgenen der unantastbaren Persönlichkeit" (H. Friedrich). Graciän steht als Moralist in der Reihe, die mit den großen französischen Aphoristen des 17. und 18. Jahrhunderts fortgesetzt wird. Sein „Handorakel“ und der „Criticön" bekunden aphoristisch und romanhaft-allegorisch dieselbe Geisteshaltung. Merkwürdig, daß das christliche Gedankengut kaum angedeutef wird und das Buch im Innerweltlichen verharrt. Die „Insel der Unsterblichkeit“, welche die beiden Reisenden zuletzt aufnimmt, bedeutet nur den Nachruhm in der Welt.

Freilich darf man das Werk nicht mit modernen literarischen Maßstäben messen, sondern muß es aus seiner Zeit heraus verstehen. Großartig ist der fast unerschöpfliche Reichtum an Bildern und Allegorien, wie die „Quelle der Täuschungen“, die „Höhle des Nichts“ oder „Der Thron der Herrschaft“. Manche gespenstische Bilder erinnern an die Visionen des Hieronymus Bosch, den Graciän geschätzt hat. Die Veröffentlichung dieses Buches, das mit Recht „ein Schatzhaus aller Themen und Stilformen der Barock-, epoche“ genannt wird, ist dankenswert.

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