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Chippendale als Weltanschauung

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Chippendale-Möbel sind schlanke und stabile Möbel im Rokokostil. Sie haben ihren Namen von dem britischen Kunsttischler Chippendale, der um 1750 diesen Wohnstil begründete. Eine Umfrage in der Deutschen Bundesrepublik hat ergeben, daß fast jeder zweite eine Wohnungseinrichtung ä la Chippendale liebt. Es sind dies 47 Prozent. Seit 1955 ist der Prozentsatz zwar UM 9 Prozent zurückgegangen, aber die „kalte Pracht”, ein typisches Zeichen für den konservativen Geschmack„ rangiert noch immer vor allen anderen Stilarten.

Die kultur kritische Frage in welchem„Zeitalter wir.’ist niemals sö oft gestellt worden wie in unseren Tagen. Unter welchem Winkel man auch immer unsere Gesellschaft sieht, es zeigt sich eine immer härter werdende Nivellierung. Unser Jahrhundert ist das Zeitalter des Sekretariats, der Meridiane, des Prototyps, des Sozialtourismus, der atomaren Energie, des Autos, aber auch, und das wird zumeist übersehen; der Restauration. Die Welt ist das geworden, was Ernst Jünger vor 25 Jahren in seiner Schrift „Der Arbeiter” vorwegnahm: eine totale Arbeitswelt.

Diese totale Arbeitswelt verlangt und züchtet den Leistungstyp, der im Kreislauf hektischer Betriebsamkeit im pausenlosen Angriff eines nivellierten Schemas dem Diesseits und seinen Aufgaben vollkommen verhaftet ist. Aber auch in dieser Welt lebt, und wirkt die Macht der Archetypen, eingegraben in die Hirnstruktur der Menschheit. Daran änderte weder das totalitäre Regime noch die konstitutionelle Monarchie. Die Masse denkt in Leitmotiven mythen- hafter Prägung. Der mechanisierte Alltag läßt keine Zeit für das Irrationale: Wunschbilder verschwommener Art, Romantiz’ismen, Hang zum Außergewöhnlichen, Sehnsucht nach feudalem Luxus. Es verkümmert, verkrüppelt, sinkt in seelische Tiefenräume, macht einer resignierten Indifferenz Platz. Es besteht keine Möglichkeit, die verdrängten, in der seelischen Humusschicht webenden, wirkenden Archetypen zu manifestieren, zur Projektion zu bringen, da ihnen die Technik keinen Projektionsraum gewährt. Wirklich nicht?

Der dunkle Saal des Kinos ist der Projektionsraum für die verdrängten Sehnsüchte, die sich auf einer simplen und zugleich raffinierten, irrealen Sozialebene in Gestalt von ranken Prinzessinnen, alterslosen Großfürsten und Dollar- millionären mit vor Langeweile zerstörten Gesichtern die Hand reichen. Und es gibt kein Kino, das nicht für sechs Schilling teilhaben ließe an den Herzens- und Gewissensnöten verstorbener oder noch lebender Monarchen. Die im Hofton gehaltenen Berichte der Golddruckjournale über die luxuriösen Häuser der Prominenten und die erklärten Schutzpatrone jener Geschmacksrichtung für die Chippendale eine • Weltanschauung darstellt, wirken auf die finanzkräftige Kundschaft der- Antiquitätenhändler ebenso wie auf die Geschmacksrichtung derer, die neidvollen Auges abseits stehen. In gehobenen Blättern drapiert sich der Heiratsmarkt in den karnevalistischen Gewändern hochgeschraubter Statussymbole. Da geben sich Akademikerswitwen aus ersten .Industriekreisen mit Diplomaten, junger Fabrikantennachwuchs mit „erfolgreichen” Geistesarbeitern, Rittergutsbesitzer (gewesene und aktuelle) mit höheren Töchtern, und hochbeinigen Karrieregirls ein sorgfältig. ‘ distinguiertes Stelldichein. Auch sekundäre Statussymbole, der rote Mercedes 300, eine oder mehrere Villen, Rennstall und Motor-, boot, Häuschen am Rand eines keimfreien Forsts, ein alter Adelsname werden gerne zitiert. Da findet sich die Verheißung späteren ypr- , mögens, dort die Erinnerung verblaßten Ruhms. Wer Statussymbole nicht in den Wanden hält, versichert den Verlust oder eine lukrative Kandidatur. Der Zug nach „oben” und zum „Vorgestern” (wobei das 18. Jahrhundert halbbewußt als letzte kulturgeschichtliche Epoche feudalen Zuschnitts empfunden wird) ist eine der wirksamsten, unterschwelligen Strömungen unserer Zeit und liegt unbestreitbar darin, daß die neuen, weder transzendent, noch sozialethisch gebundenen „Eliten” sich ihrer Standortlosigkeit, ihres stilbildenden Unvermögens und ihres schwer zu legitimierenden Neureichtums allzusehr bewußt sind.

Der Jahrhunderte gültigen Ständeordnung entsprach die oberste Devise ökonomischer Güterverteilung: jedem das Seine, aber nicht jedem das gleiche. Der Ordnung des Erwerbs entsprach eine solche des Verbrauchs beziehungsweise des Anteils an der vorhandenen Güterwelt. Jeder Verstoß gegen sie galt als ungehörig, jeder Wunsch nach einem über den Stand hinausreichenden Konsum als unpassend und suspekt. Tief wirkte die Ueberzeugung von der- notwendige Entsprechung zwischen der duręį Herkommen bestimmten Individualität und den äußeren Bedürfnissen. Mit dem Zusammenbruch jener Ordnung konnte die in ihr beschlossene Verschiedenheit des materiellen Geschicks nicht mehr aufrechterhalten werden. Der Reichtum, jetzt auf den bloßen materiellen Unterschied reduziert, wurde unverständlich und Quelle des Neides, ein wenig beachtetes Moment der Massengesellschaft „der Neid’ als Phänomen sozialer und sachlicher Nähe”. Auf den sozialen Status gründet sich aber das Selbstbewußtsein der rasch HochgekommeneA, die den abseits stehenden Massen breite Angriffsflächen bieten und deren fehlende Parkettsicherheit in den „Frau-Pollak-Witzen” einen satirischen Niederschlag fand.

Zum Aufstiegswillen des einzelnen und der durch die ökonomische Depression deklassierten Familien gehört wesentlich die steigende Irrealität des Sozialbewußtseins. Die Aufstiegs- und Verhaltensziele werden nach Schelsky keineswegs durch ein „wirklichkeitsnahes Bewußtsein, ein aktuelles Qualitätsgefühl” bestimmt, sondern durch die frühere soziale Stellung bei den Deklassierten (Flüchtlingen z. B.) oder durch die überholten Leitbilder bei den Neureichen. Die gegenwärtige gesellschaftliche Schichtung ist ohne die alten Geltungsansprüche überhaupt nicht denkbar. Obwohl die soziale Armut viel von ihrer Schimpflichkeit eingebüßt und der Reichtum viel von seinem Hochmut verloren hat. Auf der materiellen Ebene sorgt die Massenproduktion dafür, • daß fast jedermann das Gefühl hat, er gehöre nicht zu den „Untersten”, auf der gesellschaftlich-sozialen, also auf der des sozialen Prestiges, sorgt der restaurative Zug für die Differenzierung, der sich vom Drang nach antiken Möbeln und pausbäckigen Barockengeln bis zur Bemühung um eine niedere Autonummer erstreckt.

Das Groß-, Klein- und Spießbürgertum selbst hat keine Symbole, hervorgebracht. Es hat kein, fundiertes Vertrauen in seine, gemessen an dem Alter und. Integrationswert- der zerbrochenen Kronen, junge, ureigenste Staats- und Lebens-, form, die parlamentarische Republik und ihre Symbole. Während der Großvater sich -noch vor Ehrfurcht sterbend verneigte, fehlt den sich um die Fleischtöpfe des Wohlfahrtsstaates drängenden Enkeln meist noch die innere Kraft des würdevollen Selbstbewußtseins, das die eigene Person weder für weniger hält noch aus ihr mehr machen will, als sie eben ist. Diesen Enkeln, denen wir im öffentlichen Leben allenthalben begegnen, scheinen oft die von ihresgleichen geschaffenen Werte fragwürdig, darum klammern sie sich an die von vorgestern. Die Kultivierung der Tradition als Mittelpunkt des Daseins- s’öll deshalb über die stillose Gegenwart hinweg- und der frisch erworbene Urväterhausrat grandseigneuralen Lebenszuschnitt, der Heimatstil alpenländische Bodenständigkeit vortäuschen. Auf den Bütteneinladungen steht wieder das magische Wort „mit Orden” und der Glanz der Kronleuchter ist wärm -tils’ das kalte . Licht aus den Neonröhren. Die Archetypen Raben dem päuaenlo’sen Angriff des nivellierenden Schemas in den seelischen Tiefenräumen nicht nur getrotzt, sondern sich in den „Nährkulturen” Film, Illustrierte (den Manifestationen des bewegten Lebens und damit, wie Tanz und Sport, Anziehungspunkt der Massen) zu neuem Leben gemausert. Der Weg geht also von der Nivellierung zur Restauration, vom Heute zum Vorgestern, vom Stahlrohrmöbel zu Chippendale.

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